Bericht

Leseförderung im Kindergarten- und Grundschulalter

09.04.2009

Wissenschaftlicher Diskurs und praktische Initiativen


Lesen als Kulturtechnik und Teil einer möglichst umfassenden Medienkompetenz gehört zu den Schlüsselqualifikationen in unserer Gesellschaft. Folgerichtig sind wir daran interessiert, dass unsere Kinder das Lesen lernen und diese Fähigkeit für Bildung und Freizeit nutzen. Doch welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um Kindern den aktiven und kreativen Umgang mit Texten zu ermöglichen? Ist die Motivation entscheidend? Der Fähigkeitserbwerb im Unterricht? Das soziale Umfeld? Das Überblickswerk "Leseförderung im Kindergarten- und Grundschulalter. Wissenschaftlicher Diskurs und praktische Initiativen" versammelt Beiträge, die im Anschluss an ein interdisziplinäres Kolloquium, zu dem das Fach Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingeladen hatte, entstanden sind. Eine Stärke dieser Veröffentlichung liegt zweifellos in der Verknüpfung von wissenschaftlicher Analyse und unmittelbar berufspraktischer bzw. ehrenamtlicher Erfahrung bei der pädagogischen Arbeit mit Kindern.
Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung den Eröffnungsbeitrag von Dr. Volker Titel.

Vom Wollen und Können. Über die Voraussetzungen erfolgreicher Leseförderung
In der Forschung, der medial konstituierten Öffentlichkeit sowie in der unmittelbaren Erziehungsarbeit in Kindergärten und Schulen haben Debatten um den Erwerb von Lese- und Medienkompetenz gegenwärtig einen hohen Stellenwert. Lesen als Kulturtechnik und Teil einer möglichst umfassenden Medienkompetenz gehört zu den Schlüsselqualifikationen in unserer Gesellschaft, auch die wachsende Digitalisierung vieler Lebensbereiche ändert diesen Befund nicht.1
Folgerichtig sind wir daran interessiert, dass unsere Kinder das Lesen lernen und diese Fähigkeit für Bildung und Freizeit nutzen. Doch wir merken: Es gibt Defizite. Defizite beim Lesenlernen und beim Lesennutzen. Darüber gilt es zu sprechen oder vielmehr darüber, was man tun kann, um diese Defizite zu mindern. Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um Kindern den aktiven und kreativen Umgang mit Texten zu ermöglichen? Ist die Motivation entscheidend? Der Fähigkeitserwerb im Unterricht? Das soziale Umfeld? Natürlich wird Einigkeit darüber bestehen, dass keiner dieser Faktoren unerheblich ist. Dennoch gibt es unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, sowohl in der wissenschaftlichen Analyse als auch in der unmittelbaren pädagogischen Praxis. Die Beiträge des vorliegenden Bandes bieten für eine hierauf bezogene Diskussion die besten Voraussetzungen, indem sie mit verschiedenen Perspektiven über ihre jeweiligen wissenschaftlichen, berufspraktischen und / oder ehrenamtlichen Erfahrungen berichten. Entstanden sind die Beiträge im Anschluss an ein interdisziplinäres Kolloquium, zu dem das Fach Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingeladen hatte.

Ist aber das Lesen per se eine sinnvolle Tätigkeit? Der erste Beitrag des Bandes greift diese elementare Frage am Beispiel einer literarischen Figur des 18. Jahrhunderts auf und weist auf die Notwendigkeit eines ästhetischen Selbstbewusstseins hin, ohne das eine erfolgreiche, mithin aktive Lesesozialisation nicht gelingen kann. Dies gilt umso mehr in der gegenwärtigen pluralisierten Medienwelt, die neben oder wegen der Vielfalt auch Orientierungsnöte verursacht. Doch schon mit Bezug auf das Lesen ergibt sich das Problem der Orientierung: Die dem Lesen immanente semiotische Decodierung wird bei jeglichen Texten geleistet – trotzdem werden wir unseren Kindern nicht jegliche Texte zur Lektüre empfehlen. Was also ist die Alternative? Das Ausrufen eines Kinderbuch-Kanons?

Aus grundschulpädagogischer Sicht erreicht uns die Mahnung, bei aller Hinwendung zur Motivation den Befähigungserwerb, also im wörtlichen Sinne das Lesenlernen in den verschiedenen Kompetenzstufen nicht zu vernachlässigen. Eine bislang nicht genügend angenommene Herausforderung ergibt sich aus der Heterogenität in den Lernvoraussetzungen gerade am Beginn der Grundschule. Individuelle Förderung, die bei einer präzisen Lesediagnostik beginnen muss, stärkt die Persönlichkeit und bietet den Hebel für aktives Lernen mit dem Ziel, so könnte man rückgreifen, ein ästhetisches Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Was ist guter Leseunterricht? Diese Frage zielt auf ein doppeltes Problem: das der Schwerpunktsetzungen und das der Evaluation. Soll man sich in der Schule auf die »technische« Seite der Fähigkeitsvermittlung konzentrieren oder doch eher auf die Hinführung zur Literatur, mithin die Motivierung in den Vordergrund stellen? Hierhin gehört die Frage, wie erfolgreich offener Leseunterricht sein kann und welche Instrumente zur Verfügung stehen, diesen Erfolg valide zu messen. Deutlich wird, dass dabei unterschiedliche Strategien je nach Jahrgangsstufe erforderlich sind.

Laufen die Bemühungen in der Schule, idealerweise gestützt durch ein lesefreundliches Klima in der Familie, ins Leere, wenn die Freunde Lesen uncool finden? Oder deren Vorstellungen über die zu bevorzugende Lektüre ganz andere sind? Schon im Grundschulalter ist der Einfluss dieser peer groups nicht zu unterschätzen. Gelingt es, darin nicht einen Störfaktor, sondern ein hilfreiches Potenzial zu erkennen, dann kann eine Sensibilisierung der Kinder und für die Kinder erreicht werden, die sich an deren Lebenswelt mehr orientiert als an den manchmal als statisch empfundenen Zielvorgaben in Lehrplänen.

Nicht nur die höchst vorwitzigen Bemerkungen eines skandinavischen Trollmädchens lassen akademische Erörterungen und schulische (Aus-)Bildung bisweilen als wenig lustvoll erscheinen. Auf der Suche nach einem Ort der fröhlichen Lesekultur werden wir an die Bibliothek erinnert, eine Institution, die durchaus die Voraussetzung besitzt, wieder mehr von Kindern wahrgenommen zu werden. »Zehn Gebote« für eine moderne Bibliotheksstrategie können helfen, den Prozess der Lesesozialisation nachhaltig zu unterstützen.

Bibliotheken bieten die Chance, einen Brückenschlag zwischen Schule und Freizeit zu realisieren. Von Vorteil ist bei diesen Freizeitaktivitäten, dass sie häufig von mehreren Generationen gleichzeitig durchgeführt werden können. Gut organisierte Literaturfestivals sind Beispiele für erfolgreiche Lesebegegnungen.

Wenn von Lesesozialisation die Rede ist, dann stehen häufig Lese- und Schreibfertigkeiten im Blickpunkt des Interesses. Gerade aber die bereits konstatierte Heterogenität in den Lernvoraussetzungen am Beginn der Schulzeit basiert auf sehr unterschiedlich ausgeprägten Sprach-, Sprech- und Erzählkompetenzen. Die Beschäftigung mit Bilderbüchern kann hier wichtige Impulse setzen. Auch Kinder, die (noch) nicht lesen, entwickeln durch den Umgang mit Bildgeschichten eine grundlegende literarische Verstehensfähigkeit und bilden zugleich ein narratives Vorwissen, das für die Lesesozialisation Voraussetzung ist.

Das Bemühen um eine gute Leseförderung geht oft einher mit der Beschwörung einer traditionellen Buchkultur, die anderen, neuen Medien als zu beschützen gegenübergestellt wird. Ein solcher Ansatz geht jedoch an der Lebenswelt unserer Kinder vorbei. Medienkompetenz erfordert vielmehr den souveränen Umgang auch mit elektronischen Medien, möglichst bereits im Vorschulalter. Diese Erkenntnis findet jedoch in den Kindergärten noch unzureichend Berücksichtigung. Häufig wird dies mit der pauschalen Einschätzung begründet, z. B. Filme würden Kinder zu passivem Mediengebrauch führen. Dass der (begleitete !) Umgang von Kindern mit solchen Medien die narrative Kompetenz, ähnlich übrigens wie bei Bilderbüchern, steigern kann, dies belegen jüngst durchgeführte Interventionsprojekte.

Vorlesen ist eines der zentralen Elemente literarischer Sozialisation. Dies gilt in hohem Maße bereits für die Familie: Eltern, die vorlesen, schaffen damit eine wichtige Voraussetzung für die sich herausbildende Lesekompetenz ihrer Kinder. Doch auch für das außerfamiliäre, ehrenamtliche Engagement kann das Vorlesen einen wichtigen Ausgangspunkt bilden. »Lesevorbilder«, also Prominente oder Menschen mit interessanten Berufen, üben dabei eine besondere Faszination aus. Und die Idee zu einer Initiative »Hauptschüler lesen vor« hat sich als in mehrfacher Hinsicht pädagogisch wertvoll erwiesen.

Bereits im Vorschulalter können Kinder aktiv, kreativ-schaffend mit literarischen Inhalten umgehen. »Geschichten Suchen« … und durch eigene Ideen finden, dies ist ein Konzept, das mit einem Netzwerk von Ehrenamtlichen erfolgreich umgesetzt wird. Spielerisch werden dabei multimediale Strategien realisiert: Die Kinder werden zu Geräuschemachern und vertonen ein Bilderbuch.

Die Faszination des Machens lässt sich auf alle Bereiche der Herstellung beziehen: vom Ausdenken und Aufschreiben der Geschichten über das Illustrieren und Drucken bis hin zum Binden der nun fertigen Bücher. Und mehr noch – auch die Vermarktung der Ware Buch kann für Kinder erlebbar werden. Mit einem solchen Ansatz kann es gelingen, eine feste kommunale Verankerung der Initiative zu erreichen, sogar zu einem Modell für andere Städte zu werden.

Der Begriff »Bücherbabys« steht für die Idee, mit Leseförderung möglichst früh zu beginnen. Ausgehend von Lesestart-Initiativen kann von Bibliotheken ein viel beachtetes Forum für frühe Leseförderung entstehen, das Orientierungen für Eltern und Kindergärten bietet. Der Kontakt zu sehr unterschiedlichen Partnern bereichert die Arbeit und öffnet für alle neue Horizonte. Die entstandenen Synergieeffekte stützen die konzeptionellen Überlegungen grundlegend.

Unternehmerisches und kulturelles Engagement widersprechen sich nicht. Das Konzept des Public-Privat-Partnership basiert auf dieser These. Im Bereich der Leseförderung gibt es sehr erfolgreiche Projekte einer Buchhandlung, die mit Kindern, Kindergärten, Schulen und Eltern immer neue Lese-Ideen lebt. Und auch hier heißt es: »Mit Bilderbüchern wächst man besser.«

Warum gibt es überhaupt Bücher? Wer denkt sich die Geschichten aus? Woraus werden Bücher gemacht? Wie kommen die Buchstaben und Bilder hinein? Wie kann ein Computer beim Büchermachen helfen? Wie kommen die Bücher in die Buchhandlung? … Wie wäre es, wenn in Kindergärten und Schulen unter Mitwirkung eines regionalen Netzwerkes das ganze Jahr hindurch Aktivitäten rund ums Buch organisiert werden?

Die Fähigkeit des Lesens als »sinnstiftender Akt der Kohärenzbildung«2 ist wesentlich abhängig einerseits vom »empirisch erworbenen Vor-und Weltwissen«3, andererseits und damit in Verbindung von der Motivationslage.4 Die Beiträge dieses Bandes zielen auf Strategien, die schon ab der Frühphase der Lesesozialisation Prozesse des Fähigkeitserwerbs im Sinne einer Förderung des sprachlichen Bewusstseins für die Kinder erfahrbar machen. Gleichzeitig kann durch die vielfältige Beschäftigung mit dem Medium Buch eine nachhaltige Lesemotivation entstehen.

Als ein Resümee des Bandes lässt sich daher mit Blick auf eine Erhöhung der Lesekompetenz das Plädoyer für eine Synthese von Wollen und Können formulieren, wie sie auch in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Expertise »Förderung von Lesekompetenz«5 empfohlen wird. Dies impliziert die gezielte Stärkung von Prozessen sowohl der Sozialisations- als auch der Kognitionsebene. Für die Arbeit in den Kindergärten und Schulen sowie in den außerschulischen Projekten und Initiativen, die mit Kindern und Eltern Leseförderung praktizieren, geht es dabei um das Ansprechen verschiedener Sinneswahrnehmungen, um Bewegung, Spiel und sozialen Austausch, bei dem Lese- als Teil von Medienkompetenz erfahrbar wird. Und es geht um Kontinuität als Voraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg. Nicht nur Ergebnisformen sind gefragt, die als punktuelle Angebote im Kindergarten-, Familien-, Schulalltag genutzt werden können. Wichtig ist vielmehr ein Bündel aufeinander bezogener Strategien und Aktivitäten, die eine selbstverständliche Verankerung im (Lese-) Bewusstsein und Handeln der Kinder und Eltern ermöglichen.

Autor: Dr. Volker Titel

Anmerkungen
1 Dies betrifft einerseits die Bedeutung des Lesens etwa beim Spielen und Arbeiten am Computer. Andererseits, und dies ist aus buchwissenschaftlicher Sicht besonders interessant, gibt es eine zunehmende mediale Durchlässigkeit des einst ausschließlich physischen Objektes »Buch«. So liefert u. a. die aktuelle Studie der Stiftung Lesen (»Lesen in Deutschland 2008«) empirisch gut gesicherte Daten dafür, dass Lesen in wachsendem Maße nicht mehr an Printmedien gebunden ist. Dies gilt immer mehr auch für längere Texte, die insbesondere von jüngeren Menschen auch am Bildschirm gelesen werden.
2 Ursula Rautenberg: Lesen. In: Dies. (Hrsg.) Reclams Sachlexikon des Buches. 2. Auflage Stuttgart 2003, S. 330.
3 Ebd.
4 Vgl. exemplarisch Norbert Groeben: Leserpsychologie: Lesemotivation – Lektürewirkung. Münster 1988 und Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Weinheim 2004.
5 Vgl. Expertise – Förderung von Lesekompetenz. Hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Berlin 2007.

Publikation
Salamonsberger, Normann Stricker & Volker Titel (Hrsg.)
Leseförderung im Kindergarten- und Grundschulalter, Wissenschaftlicher Diskurs und praktische Initiativen. Erlangen 2009.

Inhalt
Volker Titel
Vom Wollen und Können. Über die Voraussetzungen einer
erfolgreichen Leseförderung

Leopold Klepacki
»Lesen vs. literarische Bildung« – Prolegomena zu einer
pädagogischen Anthropologie des Lesens

Meike Munser-Kiefer und Sabine Martschinke
Leseförderung aus grundschulpädagogischer Sicht

Andrea Bertschi-Kaufmann und Hansjakob Schneider
Freies Lesen oder Lesetraining ? Zu den Wirkungen zweier Unterrichtsmethoden auf die Lesekompetenz und -motivation.

Maik Philipp
Untereinander das Wort zu Wort kommen lassen. Welchen Einfluss Gleichaltrige (peers) auf das Lesen haben und wie er in der Grundschule zur Leseförderung genutzt werden kann

Jon Madsen
Lesen sollte aber Spaß machen. Bibliotheken als Orte einer
fröhlichen Lesekukultur

Nicole Pfister Fetz
Lesen in der Freizeit – Fördermodelle aus der Schweiz

Maria Riss
Literarisches Lernen im Anfangsunterricht

Marion Weise, Gudrun Marci-Boehncke und Matthias Rath
»Kinder auf die Spuren bringen« – Medien- und Lesekompetenz in der Elementarbildung

Helga Wolf und Christine Ackermann
Vorlesen macht Kinder schlau

Aurelia Dörfel
Schleswig-holsteinisches Projekt zur Leseförderung im Vorschulalter

Birgit Schulze Wehninck
Kinder machen Bücher: selbstständig und spielerisch

Ute Hachmann
Gemeinsam machen wir Kinder wortstark. Angebote der
Stadtbibliothek Brilon in Kooperation mit lokalen Partnern

Doris Höreth
Mit Kinderbüchern wächst man besser. Lesefördermaßnahmen aus dem Buchhandel

Stefan Salamonsberger und Normann Stricker
Bücher sind Schatztruhen mit verborgenen Welten

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Das Buch kann bestellt werden unter:
http://www.abenteuerbuch.de/


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