Schülertext

Was wir gewonnen haben

29.03.2007

Wie die Titelkämpfe der Fußball-WM Deutschland verändert haben



"'54, '74, '90 - 2006": So sangen die Sportfreunde Stiller hoffnungsvoll, und Millionen mit ihnen. Nach dem letzten Schlusspfiff der WM war es aber nicht der deutsche Kapitän Michael Ballack, der die begehrteste Sporttrophäe der Welt in den Berliner Nachthimmel halten durfte. Es war der Italiener Cannavaro, aber das interessierte an diesem Abend nur noch die Fußballfans. Für alle anderen in diesem Land war bereits einen Tag zuvor in Stuttgart eine wunderbare Zeit mit einem noch einmal spektakulären Spiel der deutschen Nationalmannschaft zu Ende gegangen.
Und die Wochen der WM waren in der Tat eine wunderbare Zeit, denn sie haben in Deutschland viel mehr bewegt als nur Millionen von Menschen auf dem Weg zu Stadien und Public-Viewing-Areas. Deutschland wurde Ausrichter eines gigantischen Sportfestes. Eines Festes, das nicht nur in den offiziellen Bereichen gefeiert wurde, sondern überall das tägliche Leben bereicherte - am heimischen Grill im Garten ebenso wie im Biergarten. Und das ein Land nachhaltig veränderte ...
Vor der WM mangelte es nicht an der üblichen Kritik und Skepsis. Die Deutschen taten sich schwer, wirklich an einen Erfolg ihrer Mannschaft zu glauben, und wie üblich wurde hauptsächlich eins getan - gezweifelt. Stiftung Warentest bezweifelte die Sicherheit in den eigens modernisierten Sportstadien, die Verkaufsstrategie der Fifa bezüglich der heiß begehrten Eintrittskarten gab Anlass zu weitreichender Unzufriedenheit das kalte Frühjahrswetter und nicht zuletzt die sportliche Leistung der Gastgeber in den Spielen im Vorfeld der Weltmeisterschaft ergaben ein typisch deutsches Bild. Man meckerte. Doch dann begann die WM.
Am 9. Juni standen elf junge Männer im deutschen Nationaltrikot auf dem Rasen der Münchner Fußballarena und sangen die Nationalhymne. Auf den Rängen ein schwarz-rot-goldenes Farbenmeer, allerdings damals noch Teil einer sorgsam geplanten Eröffnungschoreographie.
Wenige Tage und rund 270 Fußballminuten später sangen Millionen Menschen vor dem Fernseher die Nationalhymne. Plötzlich wurde der Liedtext gesucht - wie ging die Hymne eigentlich noch mal? Schwarz-rot-gold tauchte überall auf - kleine Flaggen fürs Auto waren ausverkauft und entwickelten sich zum begehrtesten Objekt des Sommers. Ungeachtet jeglicher innenpolitischer Diskussionen über Unterschiede bei Einkommen, Bildungschancen und Krankenversicherung wehten die Fähnchen plötzlich an allen Autos, von der S-Klasse bis zum Polo. Doch das Phänomen entwickelte sich weiter. Deutsche Flaggen tauchten überall im Straßenbild auf. Wer bisher noch an seinem Haus oder in seinem Garten einen Fahnenmast hatte, traute sich allenfalls zum Schützenfest, diesen, natürlich völlig unpolitisch, zu nutzen. Die Erinnerung an nationalsozialistische Propagandabeflaggung wog zu schwer.
Anscheinend gelang es jedoch während der Weltmeisterschaft, im Zuge der sportlichen Begeisterung eine neue, unverkrampfte und ehrliche Begeisterung zu entfachen. Kannten wir bisher Flaggen an privaten Häusern und Grundstücken vornehmlich aus den USA oder der Schweiz, so wurden sie plötzlich auch in diesem Land selbstverständlich.
Franz Beckenbauer verkündete noch einmal weise: "So stellt sich der liebe Gott die Welt vor!", und schon ist die Weltmeisterschaft beendet. Zurück zum gewohnten Fernsehprogramm, zurück zu den anderen Themen, welche die Welt bewegen.

Back to life - but to which life?
Tatsache ist, dass sich die Einstellung der Deutschen zu ihrem Land geändert hat. Und dies nachhaltig. So, wie der alte und der neue Nationaltorwart, Oliver Kahn und Jens Lehmann, ihre Rivalität überwanden und sich kameradschaftlich versöhnten, haben sich auch die Deutschen mit ihrer nationalen Identität versöhnt. Die deutschen Flaggen sind noch da. Und das wird nicht hinterfragt, diskutiert oder kritisiert. Sie sind einfach da, und anscheinend ist es inzwischen ein Stück deutscher Normalität.
Auf die Frage "Sind Sie der Meinung, dass sich die Einstellung der Deutschen zu ihrem Heimatland seit der WM geändert hat?" antwortete die deutliche Mehrheit sowohl der befragten Deutschen als auch Ausländer mit einem klaren "Ja!". Erfreulicherweise bewerteten alle, die diese Meinung vertraten, die neue Einstellung der Deutschen zu ihrem Land als positiv. Viele Deutsche gaben an, sie seien erst jetzt "irgendwie stolz, Deutscher zu sein". Endlich würden mit Deutschland auch positive Attribute verbunden.
Dieses neue Nationalgefühl wurde besonders von allen befragten Ausländern als gute Einstellung gesehen, eine Spanierin meinte sogar, die Deutschen seien jetzt lockerer in ihrem Umgang mit anderen, weil sie sich neuerdings selbst mögen würden.
Dem Wunder von Bern ist auf dem Rasen kein Wunder von Berlin gefolgt. Wenn aber nicht nur innerhalb dieses Landes, sondern auch von unseren Nachbarn diese neue Identität positiv gesehen wird, dann gibt es Millionen von Gewinnern.


Autor:
Lucas Roesler
Klasse 10d, Suitbertus-Gymnasium Düsseldorf
Gewinner des ZEUS Award 2006 in der Kategorie „Bester Text/beste Recherche“

Der ZEUS Award
Was der Oscar für Hollywood, ist der ZEUS Award für das medienpädagogische Projekt "ZEUS Zeitung und Schule" der Journalistenschule Ruhr. In Zusammenarbeit mit der Initiative „nrw – neues lernen“ werden einmal im Jahr die besten Beiträge der jungen Reporter von einer Jury prämiert. In den Kategorien „Bester Text“, „Bestes Bild“, „Beste ZEUS-Aktion“ und „Bester Beitrag der teilnehmenden Förderschulen“ werden für die Gewinner attraktive Preise ausgelobt.

Das Projekt ZEUS Zeitung und Schule
Die Journalistenschule Ruhr, Aus- und Weiterbildungseinrichtung der WAZ-Mediengruppe, entwickelte 1997 das medienpädagogische Projekt ZEUS Zeitung und Schule. Es richtet sich an die Klassen 8 bis 13 aller Schulformen, von der Förderschule bis zum Gymnasium. Seitdem lesen allein in NRW jedes Jahr 50.000 Schülerinnen und Schüler sieben Wochen lang ihre eigene Tageszeitung. Sie recherchieren, führen Interviews und schreiben über ihre Themen auf den ZEUS-Seiten in den Lokalteilen der beteiligten Zeitungen. Betreut von Redakteuren blicken sie hinter die Kulissen des Redaktionsalltags und erfahren was Journalismus bewirken kann.  Über 500.000 Jugendliche und rund 12.000 Lehrerinnen und Lehrer beteiligten sich bisher an ZEUS. Damit ist es das größte medienpädagogische Projekt seiner Art in NRW.
Das ZEUS - Team der Journalistenschule Ruhr arbeitet in NRW mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), der Neuen Rhein/Ruhr-Zeitung (NRZ), der Westfälischen Rundschau (WR), der Westfalenpost (WP) und dem Iserlohner Kreisanzeiger (IKZ) zusammen.

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