
Kompetenzrückgang von ca. einem drittel Schuljahr im Lesen |
01.11.2022 |
IQB-Bildungstrend 2021
Zu viele Grundschulkinder in Deutschland erreichen die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch und Mathematik nicht. Das zeigen die Ergebnisse der Vergleichsstudie IQB-Bildungstrend, die zum dritten Mal, nach 2011 und 2016, vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) durchgeführt wurde.
Die Datenerhebung für den IQB-Bildungstrend 2021 erfolgte zwischen April und August 2021. Teilgenommen haben 26.844 Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe in 1.464 Grund- und Förderschulen aus allen 16 Bundesländern. Getestet wurden die Kompetenzbereiche Lesen, Zuhören und Orthografie und fünf sogenannte inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen. Die Tests erfolgten i. d. R. an zwei aufeinanderfolgenden Vormittagen in der Schule, pro Testtag ca. 3 Zeitstunden einschließlich Pausen und Arbeitsanweisungen. Die Testaufgaben entwickelte ein Team erfahrener Lehrkräfte unter fachdidaktischer Leitung und Beratung der wissenschaftlichen Kooperationspartnerinnen und -partner des IQB. Einige Beispielaufgaben hat das IQB auf seiner Website veröffentlicht.
Ungünstige Entwicklung in allen Kompetenzbereichen
Die Auswertung der Daten ergab, dass im Vergleich zu den Erhebungen in den Jahren 2011 und 2016 signifikant weniger Viertklässlerinnen und Viertklässler die Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Mathematik erreichen. Dabei hat der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler in beiden Fächern abgenommen und der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard nicht erreichen, in allen Kompetenzbereichen teils deutlich zugenommen.
„Der Kompetenzrückgang in Deutschland insgesamt entspricht einer Lernzeit von ca. einem drittel Schuljahr im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören und einem viertel Schuljahr im Bereich Orthographie und in Mathematik“, erläuterte Prof. Dr. Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und Leiterin der Studie, die Ergebnisse im Deutschlandfunk.
Die Studienergebnisse belegen auch eine Verstärkung des Zusammenhangs zwischen sozialem Hintergrund der Kinder und erreichtem Kompetenzniveau (soziale Disparitäten). Bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund sind die Kompetenzeinbußen überwiegend größer als bei Kindern ohne Zuwanderungshintergrund. Bei insgesamt sinkendem Kompetenzniveau haben sich die zuwanderungsbezogenen Disparitäten in allen Bereichen verstärkt.
Förderung von Deutsch als Bildungssprache muss in der KiTa beginnen
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, nannte die Ergebnisse der Studie „ernüchternd“. Aus ihrer Sicht verdeutlichen sie, dass zu spät im Bildungsverlauf mit systematischer Diagnostik und differenzierter Förderung begonnen wird. Bereits in der KiTa müssten insbesondere der Erwerb und die Förderung von Deutsch als Bildungssprache und Vorläuferfähigkeiten im Bereich Mathematik in den Blick genommen werden. Außerdem haben die seit 2016 deutlich veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft und die inklusiver gewordene Schule Auswirkungen auf die Heterogenität und die damit verbundenen Herausforderungen für Lehrkräfte. Die KMK werde sich überlegen müssen, wie wieder mehr Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden kann, so die KMK-Präsidentin.
Stärkere Fokussierung auf Kernkompetenzen
Ties Rabe, Hamburgs Senator für Schule und Berufsbildung, erkennt im IQB-Bildungstrend erste Hinweise darauf, dass eine Trendumkehr mühsam, aber möglich ist. Zwar sei auch in Hamburg ein Rückgang der Kompetenzen zu verzeichnen, jedoch konnten sich Hamburgs Schülerinnen und Schüler im Bundesvergleich über alle Kompetenzbereiche deutlich von Platz 14 (2011) auf Platz 6 (2021) verbessern. Als Gründe für diesen Erfolg nannte der Senator, dass man in Hamburg statt auf Entlastung und Erleichterung auf mehr und intensiveren Unterricht, auf eine stärkere Fokussierung auf Kernkompetenzen, auf klare und hohe Leistungsanforderungen, auf Schulinspektionen und Lernstandsvergleiche, auf mehr Übungsphasen und auf die gezielte Förderung schwächerer Schülerinnen und Schüler gesetzt habe.
Verbindliche Strukturen zur Umsetzung evidenzbasierter Programme
Nach Ansicht von Theresa Schopper, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg, kann eine Verbesserung in den Ländern nur über qualitätsvolle, wissenschaftlich fundierte Programme zur Stärkung der Basiskompetenzen gelingen. Dabei müssten auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und die frühkindliche Bildung in den Blick genommen werden.
Welche Programme, z.B. zum Aufbau basaler Lesekompetenzen, hilfreich sind, sei bekannt, sagte Dr. Sofie Henschel, stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des IQB, im Deutschlandfunk. Es gäbe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Es müsse verbindliche Strukturen im Schulalltag geben, die es Lehrkräften ermöglichen, diese evidenzbasierten Programme umzusetzen. Dabei gehe es häufig um so niedrigschwellige Angebote wie z.B. dreimal pro Woche 20 Minuten lesen, um die Leseflüssigkeit weiterzuentwickeln. Maßnahmen, die auf das Erreichen der Mindeststandards fokussieren, müssten in den Schulen stärker umgesetzt werden, so die Wissenschaftlerin.
Systematisch aufeinander abgestimmte Maßnahmen erforderlich
In ihrem Fazit schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie: „Um dafür Sorge zu tragen, dass sich die ungünstigen Entwicklungen nicht weiter verstärken, sondern nach Möglichkeit umkehren, werden kurzfristige Einzelmaßnahmen nicht ausreichen. Vielmehr sind evidenzbasierte Strategien der Qualitätsentwicklung von systematisch aufeinander abgestimmten Maßnahmen erforderlich, die langfristig angelegt sind und durch Monitoring und Evaluation begleitet werden. Damit die für einen erfolgreichen Übergang in die Sekundarstufe I grundlegenden Mindestanforderungen perspektivisch von allen Schüler:innen erreicht werden, erscheint es wichtig, die bundesweit geltenden Mindeststandards der KMK genauer auszuarbeiten und ihre Rolle als Grundlage der Qualitätsentwicklung in Schulen deutlich zu stärken. Ferner ist es zur Sicherung von Mindeststandards erforderlich, dass Kinder mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen bereits im Elementarbereich gezielter gefördert werden als es bislang der Fall ist.“
Christine Schuster
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de