Bericht

Lesewut, Lesesucht und gefährliche Romane

27.09.2010

Debatten um das Lesen im 18. Jahrhundert




Lesende Kinder, Kupferstich von 1778
Lesende Kinder, Kupferstich von 1778
Quelle: Pictura Paedagogica Online

Im 21. Jahrhundert würde wohl kaum jemand auf den Gedanken kommen, dass das Lesen gefährlich sei. Vielmehr wird diese Tätigkeit unterstützt, gefördert und bisweilen auch idealisiert. Es ist jedoch gerade einmal etwa 200 Jahre her, dass das Lesen Auslöser und Gegenstand äußerst kritischer Diskussionen war, deren Inhalte bis hin zu einer diagnostizierten Lesesucht und entsprechenden Leseverboten reichten.
In ihrer Bachelorarbeit „Vom gefährlichen zum gefährdeten Lesen – Debatten um das Lesen im Vergleich“, eingereicht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Januar 2010, setzt sich Laura Paul mit den Bedingungen und Ursachen der konträren Auffassungen des Lesebegriffes im 18. und 21. Jahrhundert auseinander. Sie betrachtet und vergleicht die literarische Sozialisation sowie die Ausbildung und Entwicklung des Leseverhaltens in beiden Epochen und geht auf die unterschiedlich geführten Debatten über das Lesen in beiden Zeiträumen ein. Im ersten Teil der Arbeit gibt die Autorin einen Überblick über die Lesesituation im 18. Jahrhundert, betrachtet die Voraussetzungen, die eine Ausbreitung des Leseverhaltens ermöglichten und unterstützen, sowie die Zusammensetzung des Lesepublikums und dessen Art und Weise der Rezeption. Im Kapitel 3, das wir nachfolgend veröffentlichen, geht die Autorin der Frage nach, warum das Lesen im 18. Jahrhundert als gefährlich galt. Dazu werden sowohl Werke über das Lesen zu dieser Zeit herangezogen als auch Originaltexte, die die Debatten über das Lesen eingehend erläutern und widerspiegeln. Als exemplarisches Beispiel für einen Roman des 18. Jahrhunderts, der als gefährliche Lektüre galt, wird Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ vorgestellt.

Zur Gefährlichkeit des Lesens
Ein wichtiger Aspekt, der für das Lesen im 18. Jahrhundert charakteristisch ist, war die Gefahr, die man in der Lektüre zu erkennen glaubte. Dies kann zudem als einer der Gründe für die eher verhaltene Ausweitung des Lesens zu dieser Zeit angesehen werden.
Dass das Lesen eine Tätigkeit im Sinne der Aufklärung darstellte, wurde bereits hervorgehoben. Doch diese Denkweise wurde auch stark kritisiert. Die Befürchtungen reichten von lediglich missverstandener und falsch interpretierter Lektüre bis hin zu einer expliziten Gefahr, die vom Lesen ausgehen sollte. Diese Gefährlichkeit des Lesens bezog sich dabei gleichermaßen auf Leib und Seele. Dem Lesen wurden nicht nur körperlich schädigende Eigenschaften attestiert, sondern auch eine verderbliche Wirkung auf die Rezipienten – insbesondere Kinder und Frauen, die als empfindsam und leicht beeinflussbar galten. In den folgenden Ausführungen soll in erster Linie die am heftigsten kritisierte Lektüreform betrachtet werden: die schöngeistige Literatur. Dabei spielen auch die damit verbundenen Debatten und Auswirkungen eine wichtige Rolle. Im Anschluss daran wird dann Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ als ein Beispiel für das gefährliche Lesen hinzugezogen.

Auswendiglernen und Aufsagen versus verstehendes Lesen
Der Wechsel der pädagogischen Methode des Auswendiglernens und Aufsagens von Texten hin zu einem verstehenden Lesen war vielen Menschen suspekt. Vor allem Eltern wehrten sich gegen die neuartigen Methoden, „weil im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sich weder dringende Zwänge noch überzeugende Aussichten abzeichneten, die eindeutig für die moderne Pädagogik sprachen.“ (Engelsing 1987: 66). Das Neue macht immer Angst, eben gerade weil ihm so viel Unbekanntes innewohnt und man somit dessen Auswirkungen nicht abschätzen kann. Ebenso galt dies für diese neuen Lehrmethoden. Die Befürchtungen waren darüber hinaus auch stark religiös geprägt. „Die Sitte des Auswendiglernens wurde mit der Sitte des Betens in Zusammenhang gebracht.“ (Engelsing 1987: 66). Lernten die Kinder die Texte nun nicht länger auswendig, so die Befürchtung, bestand damit auch die große Gefahr, dass sie vom rechten Glauben abfallen würden.

Die Gefahren des Lesens bezogen sich aber nicht nur auf die Ausbildung der Kinder. Auch bei anderen Bevölkerungsgruppen wurde die Fähigkeit lesen zu können als eher kontraproduktiv angesehen. Diese Ansicht betraf beispielsweise die Bauern auf dem Land, schlug ihren Bogen aber bis hin zu den Lehrern. Der Grund für die Ablehnung ist unschwer zu erkennen. Mit zunehmender Lesefähigkeit bestand die Gefahr der zunehmenden Bildung und Information. Die Befürchtungen wiesen daher alle in eine ähnliche Richtung. Man wollte Unzufriedenheit und Unruhe vermeiden, da dies auch schnell zu Auflehnung führen konnte. Die Sorge, dass sich bestehende (Macht-)Verhältnisse ändern oder gar umkehren, ist bis heute ein entscheidender Grund für das Zurückhalten von Informationen. Doch Bildung besteht in erster Linie in der Vermittlung beziehungsweise dem Erwerb von Informationen. Zudem lehrt sie auch die Fähigkeit sich über das Gelernte hinaus weiter kundig zu machen und vielerlei Dinge in Frage zu stellen.

Gebildete, emanzipierte, lesewütige Frauen
Im Sinne der Aufklärung wurde auch die Bildung der Frau erst gefordert und später auch gefördert. Bildungsdefizite wurden nicht länger als normal oder natürlich betrachtet, sondern galten als änderbar. Das Lesen stellte hierbei ein wesentliches Element zur Förderung und Ausbildung der Frauen dar, auch wenn diese im Vergleich zu der männlichen nicht unbedingt als sehr tiefgründig und gründlich zu bezeichnen ist. Die Förderung und Entwicklung der Leserin vollzog sich sehr widersprüchlich. „Galt die lesende Frau um 1700 noch als Ausnahme, wird im fortschreitenden und ausgehenden 18. Jahrhundert bereits vor einer Lesesucht der Frauen gewarnt.“ (Brandes 1994: 125). Hier wird bereits ersichtlich, dass das Bild der Leserin sich im Zeitablauf mehrfach wandelte. Von der wenig bis gar nicht lesenden Frau, über die im Sinne der Aufklärung geförderten Frau, die dann allerdings vermeintlich zu viel Bildung erhielt und sich zu weit vom Idealbild der Aufklärung entfernte. Indem sie sich durch Lektüre derart bildeten, unterhielten und vor allem auch emanzipierten, galten diese Frauen daher schon bald als lesewütig.

Ein wichtiger Grund, der sicherlich mit zur Ausbildung einer Lesesucht-Debatte beigetragen hat, ist die bereits oben erwähnte Angst vor gebildeten und emanzipierten Rezipienten. Lesende Frauen machen sich zwangsläufig auch Gedanken über das Gelesene. Sie reflektieren, analysieren und kritisieren schlussendlich die erworbenen Inhalte. Das daraus dann abweichende Ansichten entstehen und bestehende Konventionen hinterfragt werden, ist eine nachvollziehbare Tendenz, die aber als umso gefährlicher gilt, je weiter sie in die einzelnen – männlich dominierten – Machtbereiche vordringt. Bollmann bringt dies ohne weitere Umschweife auf den Punkt, wenn er feststellt: „Aber in der Regel wurde vor lesenden Frauen gewarnt, weil in ihrem Kopf etwas passierte, das nicht zu den dominanten Lebensplänen passte, die andere für sie machten. Lesen stellt nicht nur Lebensentwürfe in Frage, sondern auch Vorgaben höherer Instanzen wie Gott, Gatte, Regierung, Kirche. [...] alles Unkontrollierbare macht Angst. Gerade die, die unkontrollierbare Macht ausüben (Gott, Gatte, Regierung, Kirche!), wissen das.“ (Bollmann 2005: 19).

Das Lesen aus reinem Vergnügen - ein Laster
Bevorzugte Objekte der Kritik am Lesen waren die Romane und damit einhergehend auch deren hauptsächlich weibliche Rezipienten. Den Anstoß zu der Lesesucht-Debatte gab unter anderem das gewandelte Verständnis des Lesens. In die Kritik gerieten dabei in erster Linie das Übermaß an Lesen sowie das Lesen aus reinem Vergnügen. Gegner sahen „im zügellosen Lesen lediglich einen weiteren Beleg für den unaufhaltsamen Verfall von Sitte und Ordnung.“ (Bollmann 2005: 25). Die Kritik der Lesesucht ging hierbei von unterschiedlichen Stellen aus. Aus den Reihen der Kirche wurde die Befürchtung laut, dass das Lesen – insbesondere das Viellesen – eine „umfassende Säkularisierung und Dechristianisierung“ (Wittmann 1999: 434) nach sich ziehen würde. Die sogenannte Lesewut wird aber auch von Autoren und Verfassern kritisiert. Die Befürchtungen bezogen sich hierbei vor allem auf „den Autoritätsverlust des Buchs“ sowie das Bedürfnis den „eigenen Werken einen Wahrheitsanspruch“ zu verleihen (vgl. Goetsch 1994: 21). Darüber hinaus finden sich auch Bedenken, dass insbesondere das reichliche und scheinbar unbegrenzte Lesen dem Denken schaden würde. Um dies zu vermeiden, wird erneut eine kontrollierte Lektüre gefordert, die sich insbesondere durch reflektierte Betrachtung und Beschreibung des Gelesenen auszeichnet (vgl. Goetsch 1994 : 9). Kritik wurde aber nicht zuletzt auch aus Reihen der Aufklärer laut. Diese traten zwar grundsätzlich für mehr Bildung – auch bezogen auf Frauen – ein, sahen aber „im enthemmten Lesen vorrangig ein sozialschädliches Verhalten“ (Bollmann 2005: 25), das eine Abkehr von den Werten des Bürgertums bedeuten und lasterhafte Züge annehmen würde.

Die Kritik an der Lesesucht ist wie bereits erwähnt vor allem an ein Genre eng geknüpft: die belletristische Literatur. Kritisiert wurde, dass „Romane die Phantasie reizten, die Moral verdürben und von der Arbeit ablenkten.“ (Wittmann 1999: 446). Die Verschiebung von der Stellung als „aufklärerisch-nützliche Zweckform“ (Schön 1987: 49) hin zu einer Lektüreform, die Vergnügen und Zerstreuung versprach, macht den Roman zum bevorzugten Objekt der Lesesucht-Debatte. Schön wird dabei noch deutlicher, wenn er folgendes feststellt: „Die Kritik am Lesen ist die Kritik am Roman, genauer am Romantischen, und zugleich die an der Empfindsamkeit oder vielmehr an ihrer Trivialisierung als Empfindelei.“ (Schön 1987: 49). Einerseits sah man in der Lesesucht ein Hemmnis für den Ablauf einer kontrollierten und vernunftgemäßen Emanzipation und Bildung. Andererseits befürchtete man die Ausbildung von „Müßiggang, Luxus, Langeweile“, die als grundsätzlich negative Angewohnheiten galten (vgl. Wittmann 1999: 440).

Leihbibliotheken: „Brutstätten“ der Lesesucht
Dass das Lesen sich nun immer mehr zu einem Zeitvertreib entwickelte und die Lektüre nicht mehr nur als nützlich und bildend, sondern auch als schlicht erbaulich gelten konnte, war lange Zeit nicht die übliche Sichtweise. Die Angst entstand dabei aus der Befürchtung, „daß bürgerlich-patriarchalische Vorstellungen von Arbeit, rationaler Lebensgestaltung und häuslicher Ordnung auf dem Spiel standen.“ (Goetsch 1994: 12). Damit zusammenhängend standen auch die Leihbibliotheken in der Kritik, da sie oftmals auf belletristische Literatur spezialisiert waren. Sie galten als die „wichtigsten Brutstätten“ (Wittmann 1999: 449) der Lesesucht, da sie eine große Menge an Büchern zu einem vergleichsweise geringen Betrag zugänglich machten. Wenn man sich die damaligen Buchpreise vor Augen führt, waren diese Leihbibliotheken ein Paradies für jeden Lesewütigen.

Warnung vor der Bedrohung durch Romane
Gegenmaßnahmen, die man zu einer Eindämmung der Lesesucht ergriff, beliefen sich in der Hauptsache auf das Bestreben, die vermeintlich negativen Aspekte von Romanen hervorzuheben und vor allem die Leserinnen zu einer als sinnvoll und moralisch richtig geltenden Lektüreweise zu erziehen. Dies konnte durch die Deklarierung adäquater Werke mittels der Festlegung eines zu rezipierenden Kanons geschehen. Aber auch Wochenschriften und Benimmbücher wurden als Plattform für die Darstellung vermeintlich angemessener Lektüre und entsprechender Rezeptionsweise genutzt.

Weitere Kritikpunkte am Viellesen bezogen sich auf den Aspekt der Zeitverschwendung. Insbesondere die Rezeption von Romanen galt als vergeudete Zeit und dies nicht mehr nur im Hinblick auf religiöse Wertvorstellungen. Hinzu kam nunmehr der Vorwurf, dass Frauen, die ja vorrangig das Romanpublikum bildeten, sich nicht mehr auf ihre Pflichten und Aufgaben im Haushalt konzentrieren würden (vgl. Schön 1987: 47).

Dass Romane nicht als angemessene Lektüre galten, wurde bereits festgestellt. Ihnen wohnte nach Ansicht der Kritiker ein verderbender Charakter inne. Wie hoch diese von den Romanen ausgehende Gefährlichkeit eingeschätzt wurde, soll hier mittels eines Beispiels verdeutlicht werden. Dazu wird eine Wochenschrift von 1778 betrachtet, deren Titel „Gedanken über die Gefahr empfindsamer und romanenmäßiger Bekanntschaften“ bereits eine explizite Warnung vor der Bedrohung durch Romane und deren Auswirkungen enthält. Gleich anfangs findet sich die Aussage, dass Romane und ähnliche von Empfindsamkeiten geprägte Lektüre „hauptsächlich von jungen Frauenzimmern“ (Anonym 1778: 514) rezipiert werden. Diese seien durch ihre Leichtgläubigkeit am anfälligsten dafür. „Sie stellen sich die romanenmäßige Liebe als das allerwichtigste Geschäft des menschlichen Lebens vor.“ (Anonym 1778: 521). Männer seien hingegen in ihrem Verhalten bedachter und überlegter und „werden auch nicht so leicht von einer überwiegenden Einbildungskraft fortgeleitet.“ (Anonym 1778: 529). Dieser Unterschied manifestiert sich natürlich auch in der Tatsache, dass es eher die Frauen sind, die Romane lesen und – so die Annahme – in diesem Zuge von ihnen verdorben werden. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass die Rezipientinnen durch die viele Lektüre – insbesondere von Romanen – zu schwülstigen und pathetischen Vorstellungen neigen würden. In diesem Zusammenhang wird auch davor gewarnt, dass Romane das Beurteilungsvermögen der jungen Frauen beträchtlich einschränken würden. „Aber Sie, die keine Gefahr befürchtet, hält es nicht für nöthig auf ihrer Hut zu seyn. Statt ihrem Verderben auszuweichen, ladet sie solches vielmehr ein [...]“ (Anonym 1778: 515). Frauen seien demnach äußerst empfänglich für die Schmeicheleien von Männern, die es nicht ernst mit ihnen meinten und diese Schwäche, die Anfälligkeit für das Romantische und Empfindsame, ausnutzen würden. Das daraus entstandene Unglück hätte sich die junge Leserin allerdings selbst zuzuschreiben, da sie sich „den Kopf durch eine schädliche Lektüre verrückt und ihre Krankheit durch unvorsichtige Bekanntschaft gestärkt hat.“ (Anonym 1778: 520). Mit dem Anstieg des Romans als bevorzugter Lektüreform steige aber auch die Gefahr an, dass die eher rational geprägten Männer sich zunehmend auf die empfindsame Literatur einließen. Sie würden anfangen „sich Leib und Seele zu verzärteln, und in einer weibischen Empfindsamkeit Ehre zu suchen“ (Anonym 1778: 532).

Kanons zur Lenkung des Leseverhaltens
Die Ausführungen dieses Magazins stellen eine deutliche Warnung vor der als gefährlich geltenden Lektüre von Romanen dar. Doch nicht nur mittels solcher Zeitschriften versuchte man den bedenklichen Einfluss bestimmter Werke aufzuzeigen und zu kontrollieren. Um die Leser – insbesondere die von der Lesesucht betroffenen Frauen – zu lenken, erfreute sich darüber hinaus auch die Bildung von Kanons großer Beliebtheit. In ihnen fand sich, „was Versorger und Erzieher an Lektüre für zuträglich halten, damit die Frauen, deren überbordende Einbildungskraft hinlänglich bekannt ist, nicht infolge verderblicher Lesesucht sich selbst und ihre Männer gefährden.“ (Bollmann 2005: 30). Doch dieser Versuch einer Lenkung des Leseverhaltens wie man (frau), wo und was zu lesen hatte, verlief nicht sehr erfolgreich. Gelesen wurde „was der Markt hergab“ und dies „geschah unsystematisch, zerstreut, nicht selten auch heimlich“ (Bollmann 2005: 30). Die Rezeption lief den geforderten Verhaltensweisen also zuwider, konnte allerdings – einmal angestoßen – auch kaum mehr aufgehalten werden.

Gefährliche Lektüre: Goethes „Werther“
Als ein Beispiel für gefährliche Literatur wird hier Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ angeführt. Das Werk wurde erstmals 1774 veröffentlicht und danach noch mehrfach überarbeitet. Goethe selbst stand seinem Werk sehr zwiespältig gegenüber. Dies äußerte sich nicht nur in den von ihm vorgenommenen Änderungen, die sich unter anderem auf die als vermeidbar angesehene Rolle des Selbstmordes beziehen. Auch die Auslegung des Romans verschob sich damit von einer „Rebellion des Individuums gegen die bürgerliche Lebenspraxis im absolutistischen Staat in ein Allerweltsgefühl jugendlichen Unbehagens.“ (Scherpe 1980: 107).

Druckverbote und Zensur ergingen schon bald gegen das Werk. Doch diese Handhabe stellte sich eher als Unterstützung für das Buch und seinen Inhalt heraus und wurde daher nicht lange als ein probates Mittel zur Bekämpfung des Werthers und seiner Ideen genutzt. Die Kritik am Werther bezog sich einerseits auf die romanenhafte Empfindsamkeit und andererseits – und dies auch in der Hauptsache – auf die laut Kritikern falsch vermittelten Vorstellungen, Ansichten und Werte. Diese äußerten sich unter anderem in der Nachahmung des vom Protagonisten verübten abschließenden Selbstmordes. Bis heute findet sich in der Psychologie die Bezeichnung Werther-Effekt für einen Selbstmord, dessen Intention aus der Nachahmung eines bereits verübten Suizides entsprungen ist. Obwohl es als unwahrscheinlich gilt, dass es eine plötzliche und sehr starke Welle von Selbstmorden gab, hatte das Verhalten der Romanfigur doch erkennbare Auswirkungen auf die Leser. „Die Verführung zum Selbstmord ließ sich zwar nur durch wenige Fälle beweisen, doch wurden diese eifrig ausgemalt, um das Schreckbild der Werthergefahr zu beschwören.“ (Scherpe 1980: 31). Viel bedeutender war die Tatsache, dass die vorrangig jungen Rezipiente den Werther als eine Art Modeerscheinung und damit als Kult behandelten. Sie kleideten sich gemäß den Beschreibungen im Roman und der Werther wurde zu einem gerne genutzten Gesprächsthema. Doch „Der eigentliche Wertherkult blieb eine Sache der gebildeten Stände.“ (Scherpe 1980: 100).

Der sogenannte Wertherkult spiegelt hierbei auch eine der größten Befürchtungen der Autoren wieder: die missverständliche Rezeption. Goethe hatte nicht intendiert den Selbstmord zu romantisieren, vielmehr wollte er die „bürgerliche Diesseitsmoral“ (Wittmann 1999: 436) entlarven. Auch sollte der Roman nicht als eine exemplarische Rezeption gewünschter Verhaltensweisen dienen und somit im didaktischen Sinne ein nachahmungswürdiges Abbild liefern. Dass der Text jedoch missverstanden werden konnte und bis hin zur Nachahmung führte, lag unter anderem an der gewählten Form des Romans. Werther schildert seine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse in Form von Briefen an einen Freund. Damit wird er zum „Protokollant seiner Leidensgeschichte.“ (Scherpe 1980: 13) und die von Werther erläuterten Ereignisse werden somit authentisch und nicht nur nachvollziehbar, sondern auch nachfühlbar.

Je nachdem, welche Seite man betrachtet, Kritik oder Lob, ist Werther einmal ein romantischer Schwärmer, der sich feige das Leben nimmt oder ein gefeierter Held, der sich gegen Doppelmoral und Standesdünkel durchsetzt. Die Kritik am Werther ist im 18. Jahrhundert aber weitaus verbreiteter als dessen Lob. Zu offensichtlich erschien der verderbliche Einfluss, der von dem Werk ausging.
Die Kritiker des Werther gingen äußert hart mit dem Werk ins Gericht. Zu schwer wog die Befürchtung der falsch vermittelten Rezeption und die Verderblichkeit, die von ihm ausgehen sollte. Werthers Verhalten äußere sich lediglich durch das „Ausspinnen unnützer und ihm selbst wenig zuträglicher Gedanken.“ (Scherpe 1980: 37). Er widerspricht mit seinem Wesen und seinem Verhalten dem bürgerlichen Wertvorstellungsbild des arbeitenden und produktiven Menschen: „Statt ordentlichen Berufsgeschäften nachzugehen, verharrt er in Untätigkeit und Lethargie.“ (Scherpe 1980: 37). Eine große Bedrohung zeigte laut der Gegner „Werthers Beispiel der Selbstverwirklichung, das mobil machte und offensichtlich zur Nachahmung aufforderte.“ (Scherpe 1980: 72). Dies steht im Zusammenhang mit der Authentizität, die der Roman vermittelte. Die Verbindung von Briefroman und der Tatsache, dass man aus der Lektüre nicht selten Vorbilder für das Verhalten extrahierte, trugen zu der Verbreitung als schlecht angesehener Handlungsweisen bei. Da der Roman aber nicht als ein Verhaltensmuster konzipiert war – Schön spricht hierbei von einem „den sich erbaulichen und didaktischen Rezeptionsmustern verweigernden Werther.“ (Schön 1987: 324) – bildet das Auseinanderstreben zwischen den Erwartungen der Rezipienten und den Intentionen des Autors ein Problem, dessen Auswirkungen zu einer Debatte beträchtlichen Ausmaßes führten.

Die Kritik am Werther nahm sehr schnell auch politische Züge an. Es wurde weniger das Literarische des Romans besprochen und kritisiert, als vielmehr die dem Werk innewohnende Infragestellung und Dekonstruierung von bürgerlichen Werten und entsprechenden Verhaltensweisen. Schön stellte dazu sogar fest: „die akademisch-professionelle Kritik begrüßte den Roman zunächst“ (Schön 1987: 300). Doch die Umsetzung der Handlung widersetzte sich den bis dahin gängigen Rezeptionsmustern und vorgeschriebenen Wegen der Konstruktion von Lektüre. „Für die Zeitgenossen war der Werther ein Affront.“ (Scherpe 1980: 14), weil er den Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Zeit widersprach. Die Kritik sprach von den Auswirkungen des Werthers als einer Krankheit und diese sogenannte Wertherkrankheit lässt sich charakterisieren als: „die Unfähigkeit, den Aufruhr der Gefühlskräfte in Beziehung zu setzen zu gesellschaftlichem Verhalten, Sensibilität und Betroffenheit umzusetzen in Taten.“ (Scherpe 1980: 99).

Für eine bessere Darstellung der Kritikpunkte lohnt sich ein Blick auf einige Originaldokumente. Eine kritische Schrift, die hier beispielhaft angeführt werden soll, sind Goezes „Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werther“. Bereits 1775 erschienen und somit nur kurz nach der Veröffentlichung des Werthers bespricht Goeze, die - wie er sich ausdrückt - „Narrheiten und Tollheiten“ (Goeze 1775: 175) des jungen Werther. Seiner Ansicht nach bezieht sich der Inhalt auf einen schändlichen Selbstmord des Protagonisten, den eine „närrische und verbotene Liebe“ (Goeze 1775: 175) angetrieben hat. Goezes Wortwahl* macht unmissverständlich deutlich, was er von Goethes Werk hält. Seiner Ansicht nach stellt es eine Gefahr dar – insbesondere für die Jugend: „Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewiß zu seiner Zeit aufbrechen wird.“ (Goeze 1775: 178). Nicht zuletzt der Aufbau des Romans sowie die fehlende eindeutige Verurteilung von Werthers Verhalten noch im Roman würden den Lesern falsche Vorstellungen, Werte und Tugenden vermitteln. So schreibt Goeze, dass er „auch nicht eine Spur der wahren Tugend finde, dagegen Thorheiten genug, auch wirkliche Laster.“ (Goeze 1775: 184).

Das Erscheinen des Werthers ist für Goeze darüber hinaus ein deutliches Zeichen des Verfalls der Sitten und Tugenden. Deshalb enden seine Ausführungen auch mit einem Appell an die Verantwortlichen. Diese sollen sich den so immens geänderten Zuständen annehmen und ihnen entgegenwirken. Denn laut Goeze befinde man sich in nachweislich immer schwierigeren Zeiten, die sich durch die Existenz von Problematiken wie „Apologien für den Selbstmord, […] gottlose Zeitungs-Recensenten [...] pestilenzialische Sucht der Lotterien [...]“ (Goeze 1775: 187) charakterisieren lassen. Goeze sieht im Werther somit einen Roman, der zum Verfall der Sitten und Moral beiträgt und ausschließlich dem falschen Verhalten zuträglich sei. Diese Gefahr lässt sich seiner Ansicht nach nur mittels einer Zensur einschränken, die er dementsprechend auch einfordert.

Es findet sich eine Vielzahl weiterer Schriften, die mit dieser Sichtweise konform gehen. So schließt sich ein anonymer Autor direkt an Goezes Ansichten und Ausführungen an, wenn er schreibt: „Mögten doch die Obrigkeiten die Macht, die sie in Händen haben, […] dazu anwenden, daß das höllische Buch nicht mehr gelesen würde!“ (Anonym 1775: 198). Dieser Autor geht allerdings noch weiter, indem er von einem „entsetzlichen Ruin“ spricht, „der dem gesitteten Europa drohet.“ (Anonym 1775: 198). Dies klingt zwar sehr nach dem Untergang des Abendlandes, zeigt aber deutlich, welche Befürchtungen und Ängste aus der Rezeption vermeintlich falscher, unmoralischer und somit gefährlicher Lektüre gezogen wurden.

Autorin: Laura Paul

Entnommen aus:
Laura Paul (2010): „Vom gefährlichen zum gefährdeten Lesen – Debatten um das Lesen im Vergleich“. Bachelorarbeit. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Fakultät für Kulturwissenschaften. Studiengang Bachelor of Arts

Ausblick:
Im zweiten Teil ihrer Arbeit untersucht Laura Paul, wie es dazu kam, dass das Lesen, das im 18. Jahrhundert noch als gefährlich galt, nun im 21. Jahrhundert als gefährdet gilt. Dazu werden gleichermaßen das Lesepublikum und die Bedeutung des Lesens betrachtet und Publikationen zum und über das Lesen im 21. Jahrhundert herangezogen. Als exemplarisches Beispiel für einen populären Roman des 21. Jahrhunderts wird die „Bis(s)“-Reihe von Stephenie Meyer hinsichtlich ihrer Wirkung auf junge Leserinnen und Leser vorgestellt.
Wir veröffentlichen das Kapitel „Zur Gefährdung des Lesens“ und das Fazit der Arbeit im Oktober 2010.

Anmerkung:
* Beispiele dafür sind unter anderem „Pestgeschwür“ oder auch „Lockspeisen des Satans“ (vgl. Goeze 1775: 178).

Literatur:
Anonym (1775): „Schwacher jedoch wohlgemeynter Tritt vor dem Riß, neben oder hinter Herrn Pastor Goeze, gegen die Leiden des jungen Werthers und dessen ruchlose Anhänger.“. In: Scherpe, Klaus R. (1980): Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. 3. unveränderte Auflage.Wiesbaden: Athenaion: 190-221.

Anonym (1778): „Gedanken über die Gefahr empfindsamer und romanenmäßiger Bekanntschaften.“ In: Hannoverisches Magazin 33/34: 514-534.

Bollmann, Stefan (2005): Frauen, die lesen, sind gefährlich. München: Sandmann.

Brandes, Helga (1994): „Die Entstehung eines weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften“. In: Goetsch, Paul (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen: Narr: 125-133.

Engelsing, Rolf (1987): Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart: Metzler.

Goetsch, Paul (1994): „Einleitung: Zur Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert“. In: Goetsch, Paul (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen: Gunter Narr: 1-23.

Goeze, Johann Melchior (1775): „Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werther“. In: Scherpe, Klaus R. (1980): Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. 3. unveränderte Auflage.Wiesbaden: Athenaion: 173-188.

Scherpe, Klaus R. (1980): Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. 3. unveränderte Auflage.Wiesbaden: Athenaion.

Schön, Erich (1987): Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers: Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wittmann, Reinhard (1999): „Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?“. In: Chartier, Roger/Cavallo, Guglielmo (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main: Campus: 419-454.


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