
Literatur in Bewegung |
28.05.2010 |
Romane und Haikus für Handys
![]() |
Handyromanleserin © Oliver Bendel |
Die Ausbreitung von Handyliteratur
Handyliteratur erfreut sich in Japan großer Beliebtheit. Insbesondere die "mobairu shousetsu" (Romane für das Handy) und "keitai shousetsu" (Handyromane im engeren Sinne) haben es zu erstaunlichen Verkaufszahlen gebracht.1 Sie werden über das World Wide Web und mobile Dienste und Shops vertrieben und – wenn sie überdurchschnittlichen Erfolg haben – in gedruckter Form mit gehobener Ausstattung angeboten. Es gibt spezialisierte Anbieter und Verlage, und verschiedene traditionelle Verlage engagieren sich in dem lukrativen Geschäft. Auch in anderen asiatischen Ländern, in den USA, in Afrika sowie in Deutschland und Österreich spielen Handyromane eine Rolle.
Die deutschsprachigen Medien verfolgen den Trend aufmerksam.2 Allerdings sind erhebliche Unterschiede zu verzeichnen. Die ZEIT berichtet seit 2007 regelmäßig über das Thema. Andere Zeitungen und Zeitschriften scheinen noch nicht realisiert zu haben, dass es das Genre gibt. Eine ähnliche Situation liegt bei den Literaturexpertinnen und -experten vor. Im Jahre 2009 stand die deutsche Sprachwissenschaftlerin Julia Ricart Brede in einem Film des ZDF Rede und Antwort und publizierte aus pädagogischer Sicht einen Artikel zum Thema in einem Fachmagazin.3 Das Standardwerk "Die Struktur der modernen Literatur" des Schweizers Mario Andreotti geht in der vierten Auflage aus dem Jahre 2010 auf das Phänomen ein.4 In Deutschland wurden erste Haus- und Abschlussarbeiten angenommen.5 Ansonsten herrscht ein Schweigen, das verschiedentlich gedeutet werden kann.
Merkmale und Möglichkeiten
Handyromane und -gedichte werden auf dem mobilen Gerät angezeigt bzw. gespeichert. Auf ein modernes Handy oder Smartphone passen hunderte, ja tausende Bücher. Die mehrheitlich jungen Leserinnen und Leser haben oft eine ganze Bibliothek in der Hosen- oder Handtasche. Die Bücher werden in allen möglichen Situationen gelesen, bei der Fahrt zur Arbeit oder zur Schule, am Strand (im Sonnenlicht) und im Bett (unter der Decke). Sie können, müssen aber nicht auf dem Handy geschrieben werden.
"Richtige" Handyliteratur berücksichtigt die Möglichkeiten des mobilen Geräts. Es wäre zu einfach, von Be- und Einschränkungen zu sprechen. Zum einen gibt es nicht nur das kleine Display, sondern auch Links und andere multimediale Optionen. Zum anderen kann aus einer scheinbaren Beschränkung eine enorme Vielfalt und Komplexität entstehen. Ein gutes Beispiel dafür sind Haikus (japanische Kurzgedichte) mit ihren strengen Vorgaben, die man auf dem Papier wie auf dem Handy einhalten, ausnutzen und brechen kann. Ein Handy bleibt ein Handy, aber schon heute deutet sich an, dass die Interaktionen des Geräts mit der Umwelt die Literatur befruchten könnten.
Die Plots der japanischen Handyromane sind meistens temporeich und schräg und drehen sich um Liebe und Leidenschaft. Die Größe des Displays und der Tastatur förderte die Entstehung spezieller literarischer Formen. So sind kurze, einfache Sätze typisch. Dialoge werden tendenziell vermieden oder auf das Wesentliche beschränkt. Handyromane sind also nicht einfach eine weitere Form von E-Books, sondern eben ein eigenes Genre. Die Autoren sind in der Regel literarische Außenseiter oder jugendliche Talente, in Japan insbesondere Mädchen.
Der Verfasser kennt die Tradition, möchte aber einen eigenen Weg gehen.6 Der europäische Handyroman ist vielleicht vielschichtiger, raffinierter, weniger Kommunikation zwischen Mädchen, mehr Spiel mit der Information zwischen allen. Anspielungsreich sind die Serien um die junge Privatdetektivin Lucy Luder und um Handygirl (einen Avatar, der wiederholt zur Superheldin wird) in verschiedenem Sinne. In den Detektivromanen finden sich Wikipedia-Zitate, und auch andere Texte werden – äußerlich sichtbar – eingebaut. In den Abenteuern mit der Superheldin tauchen Emoticons und ASCII-Art auf – und fremdsprachliche Wörter samt primitiver Lautschrift.
Dramatische und lyrische Literatur
Während sich Erzählungen und Romane gut für die Darstellung auf dem Handy eignen, ist es mit dramatischer und lyrischer Literatur ungleich schwieriger. Hier wird das Medium auf einmal doch zur Beschränkung, etwa weil man längere Zeilen umbrechen muss. Man kann Gedichte zwar mit Schrägstrichen statt mit Umbrüchen umsetzen; der Lesegenuss dürfte jedoch getrübt sein. Eine Ausnahme ist zu nennen, nämlich die erwähnten Haikus. Diese bestehen aus bis zu 17 Silben, die sich in der Regel auf drei Zeilen verteilen.
Der Verfasser hat 2010 bei Blackbetty Mobilmedia den herunterladbaren Haikuband "stöckelnde dinger" veröffentlicht. Die Handyhaikus wechseln sich – auch das ein typisches Gestaltungselement von Handyliteratur – mit bunten Grafiken ab. Die Zeilen sind nicht übereinander, sondern nebeneinander angeordnet und mit Hilfe von Schrägstrichen voneinander getrennt. Dieses Mittels bedienen sich auch gerne die Anhänger der Twitter-Lyrik. Die 100 Handyhaikus werfen Blicke auf Freibad- und Steinzeitmädchen, besingen Brigitte Bardot, Jane Birkin und eine junge Frau auf einem Bild von Vermeer und huldigen den künstlichen Wesen der Antike und – Stichwort Handygirl – der Gegenwart.
Der Künstlichkeit und Virtualität im weiteren Sinne ist ein zweiter Band mit Handyhaikus gewidmet, der in gedruckter Form beim Hamburger Haiku Verlag erschienen ist. Die Gedichte in "handyhaiku" erzählen von unserer technisierten und medialisierten Zeit, fangen unsere mobile Welt ein, lassen künstliche Kreaturen und Maschinenmenschen auftauchen und spiegeln Figuren der (Handy-)Romane wider. Sie sind nicht nur in Textform abgedruckt, sondern auch als QR-Codes. Diese "Muster", die in Japan außerordentlich populär sind, gehören zu den 2D-Codes und können mit einem Handy mit Kamera eingescannt werden. Die Software – den QR-Code-Reader – gibt es kostenlos im Web oder für geringe Beträge in speziellen mobilen Shops. Nach dem Scannen eines der Codes wird auf dem Display der entsprechende Text angezeigt. Mehrere Texte werden in einer Liste angeordnet. Man kann seine Lieblingshaikus mit sich herumtragen und per SMS an Bekannte verschicken.
Ausblick
Was das Potenzial für die Leseförderung angeht, können lediglich Vermutungen angestellt werden. In Japan scheint der Handyroman zur (Wieder-)Verbreitung des Lesens bei jungen Menschen beigetragen zu haben.7 Sicherlich ist es auch im deutschsprachigen Raum möglich, über das Handy einen Zugang zur Literatur zu schaffen.8 In dem erwähnten Film des ZDF äußert sich der Redakteur Daniel Lessmeister verhalten optimistisch: "Und wer weiß, ob nicht der Handyroman junge Leute wieder mehr zum Lesen bringt."9 Die in diesem Zusammenhang interviewte Wissenschaftlerin Julia Ricart Brede beschreibt ihre Erfahrungen und die Befindlichkeiten der Jugendlichen mit folgenden Worten: "Im Gespräch mit Jugendlichen habe ich auch schon festgestellt: Sie schämen sich teilweise fast, ein Buch auszupacken. Das Handy anonymisiert das Ganze. Das Lesen wird viel cooler."9
Erste Kontakte und Gespräche des Verfassers legen allerdings den Schluss nahe, dass sich im deutschsprachigen Raum einschlägige Organisationen wie Institute und Stiftungen schwer tun bei der Einordnung und Einbeziehung von Handyliteratur. Leseförderung scheint sich eher auf die eigenen Präferenzen als auf die Präferenzen der Kinder und Jugendlichen zu beziehen und sich im luftleeren Raum einer untergehenden Kultur zu bewegen. (Stadt-)Bibliotheken müssen dagegen Kunden (wieder-)gewinnen und sind deshalb an Handyromanen und -gedichten – eine gewisse Informiertheit und Aufgeschlossenheit vorausgesetzt – durchaus interessiert.10
Bezüglich der weiteren Entwicklung im erzählerischen Bereich soll abschließend Mario Andreotti zu Wort kommen: "Dass der Handy-Roman, der vor allem in Japan seit Jahren boomt, auch im deutschsprachigen Raum, schon der zahllosen Handynutzer wegen, eine Zukunft hat, lässt sich kaum bezweifeln. Mobile Literatur für den modernen Globetrotter scheint ein Bedürfnis zu sein. Dazu kommt, dass der Handy-Roman Experimente (etwa die Entwicklung multimedialer Formen) zulässt, wodurch er der Literatur, insbesondere der modernen, zweifellos neue Impulse zu geben vermag."4
Autor:
Prof. Dr. oec. Oliver Bendel
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Institut für Wirtschaftsinformatik IWI
Peter-Merian-Strasse 86
4002 Basel, Schweiz
Internet: www.oliverbendel.net
Über den Autor:
Oliver Bendel hat an der Universität St. Gallen promoviert, arbeitete in Deutschland und in der Schweiz als Projektleiter im Bereich Neue Medien und leitete technische und wissenschaftliche Einrichtungen an Hochschulen. Heute lebt er als freier Schriftsteller in der Schweiz und lehrt und forscht als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft (Fachhochschule Nordwestschweiz), mit den Schwerpunkten E-Learning, Wissensmanagement, Web 2.0, Mobile Business und Informationsethik.
Quellen/Anmerkungen:
1 Vgl. Coulmas, Florian: Handy verrückt. In: ZEIT Online. Hamburg, 15. Mai 2008.
2 Über die Handyromane des Verfassers sind ca. 80 Beiträge erschienen. Vgl. Jolmes, Johannes: Der Daumen-Roman. In: ZEIT Online, 13. März 2009. Vgl. weiterhin Nicole Salathé: Epik in der Hosentasche – der Handyroman empfiehlt sich als neues literarisches Genre. Film im Schweizer Fernsehen (SF1, Kulturplatz). Zürich, 14. April 2010.
3 Vgl. Ricart Brede, Julia: Handybücher: Literatur von und für die Daumen-Generation. In: Literatur im Unterricht, 2/2009, Juli 2009. S. 119 – 128. Vgl. weiterhin Lessmeister, Daniel; Adrian, Doro: Cooler lesen mit dem Handy. Film auf ZDF Online. Stuttgart, 7. Februar 2009.
4 Vgl. Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen Literatur: Neue Wege in der Textinterpretation. 4., vollst. neu bearb. und akt. Aufl. Bern 2009. S. 401.
5 Vgl. Mauermann, Johanna: Das Phänomen Handyroman in der zeitgenössischen japanischen Literatur. Magisterarbeit an der J.W. Goethe-Universität. J.W. Goethe-Universität, Frankfurt 2009.
6 Der Verfasser schreibt seit mehreren Jahren Handyromane. Sein erster Handyroman "Lucy Luder und der Mord im studiVZ" stand Ende 2007 als kostenloses PDF im Web zur Verfügung. 2008 brachte die Blackbetty Mobilmedia GmbH – nachdem bereits die cosmoblonde GmbH einen Versuchsballon gestartet hatte – die Handyromane "Lucy Luder und der Mord im studiVZ" und "Lucy Luder und die Hand des Professors" heraus, Anfang 2009 "lonelyboy18" und den ersten Teil von "Handygirl", Ende 2009 den zweiten Teil von "Handygirl", im Frühjahr 2010 den dritten.
7 Vgl. Mauermann, Johanna: Das Phänomen Handyroman in der zeitgenössischen japanischen Literatur. Magisterarbeit an der J.W. Goethe-Universität. J.W. Goethe-Universität, Frankfurt 2009. S. 21.
8 Speziell in der Schweiz bietet sich die Verbreitung von Mundarthandyromanen an. Der Verfasser hat ein entsprechendes Projekt bereits lanciert. Vgl. Nicole Salathé: Epik in der Hosentasche – der Handyroman empfiehlt sich als neues literarisches Genre. Film im Schweizer Fernsehen (SF1, Kulturplatz). Zürich, 14. April 2010.
9 Lessmeister, Daniel; Adrian, Doro: Cooler lesen mit dem Handy. Film auf ZDF Online. Stuttgart, 7. Februar 2009.
10 Neben dem Lesen sollte auch das Schreiben mit dem bzw. für das Handy untersucht werden. Gerade Haikus sind in diesem Kontext interessant.
Weitere Informationen:
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de