
Systematisches Lesenlernen wurde zu lange vernachlässigt |
10.02.2009 |
Interview mit Professor Dr. Wilfried Bos
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Professor Dr. Wilfried Bos Quelle: bildungsklick.de |
Herr Professor Bos, als Leiter der IGLU-Studie müssten Sie sich doch eigentlich freuen: Die Schüler werden immer besser.
Wilfried Bos: Die Grundschüler werden immer besser. Das ist in der Tat so: In der ersten Studie Ende der achtziger Jahre lagen wir im Grundschulbereich im internationalen Vergleich im Mittelfeld, in der nächsten Studie 2001 im oberen Leistungsdrittel und 2006 dann im oberen Leistungsviertel - also jedes Mal ein Stückchen besser. Das ist an sich erfreulich. Anderen Ländern gelingt das auch bei PISA, England etwa – manchen Ländern aber auch nicht.
Wenn Sie damit auf Deutschland anspielen: Nach der letzten PISA-Studie war doch eitel Freude angesagt – wegen messbarer Verbesserungen.
Wilfried Bos: Das stimmt. In den Naturwissenschaften haben wir ein bisschen zugelegt. Möglicherweise liegt das mit daran, dass nach der ersten PISA-Studie ein Ruck durch die Lehrerschaft gegangen ist. Und man darf nicht vergessen, dass PISA auch Anlass für ein großes Projekt zur Unterrichtsverbesserung war: das SINUS-Projekt der Bund Länder Kommission. Schließlich wissen wir ja seit TIMSS, dass die Probleme bei uns im Wesentlichen auf den suboptimalen Unterricht zurückzuführen sind. Im SINUS-Projekt haben Hunderte und Tausende von Schulen und Kollegien über mehrere Jahre zusammengearbeitet, um ganz konkret den Unterricht zu verbessern. Wir wissen ja, dass Schulen, die tatsächlich bei SINUS teilgenommen haben, bei PISA signifikant besser abgeschnitten haben als die Schulen, die nicht teilgenommen haben.
Also hat man nach der ersten PISA-Studie richtig reagiert?
Wilfried Bos: Ich finde es nur ziemlich tragisch, dass man sich auf Mathematik und Naturwissenschaften beschränkt hat und dass wir erst jetzt anfangen, auch die Leseförderung ins Zentrum zustellen, etwa mit dem von der KMK angestoßenen Projekt ProLesen. Aber warum man nicht direkt so etwas wie SINUS auch für das Lesen gemacht hat, ist mir bis heute schleierhaft. Bei allen guten Ergebnissen in der Grundschule ist doch seit 2001 bekannt, dass ein Großteil der Schüler – mehr als 40 Prozent - auch in der Klasse fünf, sechs und sieben grundlegenden und systematischen Leseunterricht braucht. Das ist auch Hunderte Mal gesagt worden. In den Curricula von unseren Klassen fünf, sechs und sieben steht aber das systematische Lesenlernen gar nicht oder nur in sehr unzureichendem Maße auf dem Programm. Dass man das in manchen Bundesländern über acht Jahre einfach schleifen lässt, ist schon ein Problem.
Was kann man bei IGLU noch ablesen – hat sich am Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg etwas geändert?
Wilfried Bos: Die sozialen Ungerechtigkeiten sind ein ganz kleines bisschen kleiner geworden. Weil in unserer Gesellschaft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, hätte ich eigentlich erwartet, dass sich das Problem verschärft. Die Kopplung von sozialem Status der Elternhäuser an den Bildungserfolg der Kinder ist immer noch groß, zu groß, aber sie hat sich tatsächlich etwas verbessert.
Und heruntergebrochen auf die einzelnen Bundesländer?
Wilfried Bos: Diese Ergebnisse haben wir noch nicht publiziert. Das wird unter anderem Gegenstand unseres dritten IGLU-Bands sein, den wir im Herbst veröffentlichen werden. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass die Unterschiede zwischen den Bundesländern deutlich sind.
Das bedeutet, wenn wir beispielsweise Bremen und Bayern vergleichen?
Wilfried Bos: Bayern schafft es in Deutschland im Grundschulbereich mit am besten, den Bildungserfolg der Kinder vom sozioökonomischen Status der Eltern zu entkoppeln.
Warum Bayern - haben Sie eine Erklärung dafür?
Wilfried Bos: Darüber kann ich nur spekulieren. In Bayern wird besonders stark auf schriftliche Leistung gesetzt. Das heißt, ein Kind aus der Mittelschicht, das sehr gut parlieren kann, hat wenig Chancen, schlechte schriftliche Leistungen durch mündliche Beteilung auszugleichen. Das ist in Bremen anders. Ein Professorenkind, das sich laufend meldet und dem Lehrer wunderbar ums Bärtchen reden kann, hat dort eine viel größere Chance, eine bessere Zensur bei schlechter schriftlicher Leistung zu bekommen. Die Bayern sind da einfach ziemlich strikt: Die erbrachte schriftliche Leistung ist mehr ausschlaggebend für die Note. Ich habe keinen Beweis dafür, es wäre für mich aber eine plausible Erklärung.
Klingt ein bisschen nach pädagogischem Rückschritt.
Wilfried Bos: Nein, das andere ist ja nur das Schönrausreden der Mittelschicht und hat ja nichts mit Leistung zu tun. Diese Kinder können sich nur sehr gut verbal auseinandersetzen und den Eindruck erwecken, als ob sie tatsächlich etwas könnten. Das ist übrigens auch in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Ich habe als Hochschullehrer in verschiedenen Bundesländern gearbeitet. Meine erste Hochschullehrerstelle hatte ich in Erfurt und vorher war ich lange Jahre in Hamburg tätig. In Erfurt waren die Studierenden super vorbereitet, sie hatten alles gelesen, aber man konnte sie nicht zum Diskutieren bewegen. In Hamburg hingegen hatten viele der Studierenden eher wenig gelesen, aber sie konnten bar jeder empirischen Grundlage zwei Stunden über das Thema diskutieren. Wenn man das nur oberflächlich betrachtet, dann denkt man: Was sind die Hamburger gut und die in Thüringen dumm.
Apropos Hamburg: Dort sieht das neue Schulmodell die Trennung der Schüler erst nach der sechsten Klasse vor. Ein richtiger Schritt?
Wilfried Bos: Ich bin voller Zweifel, ob es irgendetwas bringt, die Kinder zwei Jahre länger zusammen lernen zu lassen. Dann macht man den gleichen Fehler zwei Jahre später. Wissenschaftlich gesehen würde das - wenn überhaupt - erst nach der Pubertät Sinn machen, also am Ende der neunten Klasse. So agieren neunzig Prozent der Schulsysteme auf dieser Welt. Weil sich dann nämlich erst die Interessenlage der Schüler gefestigt hat. Vorher ist es egal, ob ich nach der 4., 5. oder 6. Klasse trenne.
Also sollten wir die Kinder mindestens bis zur neunten Klasse zusammen lassen?
Wilfried Bos: Entwicklungspsychologisch ist es sinnvoll, nach der neunten oder zehnten Klasse aufzuteilen. Was die Schulleistung angeht, haben wir in unseren Untersuchungen allerdings festgestellt, dass es sowohl in Ländern, die sehr früh differenzieren, als auch in solchen, die später differenzieren, gute wie schlechte Ergebnisse hinsichtlich der Schulleistungen gibt. Die andere Frage ist, ob man alles immer mit Leistung in Verbindung bringen muss. Es gibt Eltern, die schulen ihr Kind 2008 ein mit dem T-Shirt "Abi 2020". Muss man die Kinder ab Ende von Klasse drei zur Nachhilfe schicken, um sie auf den Übergang zu drillen? Muss ich in Kauf nehmen, dass Kinder sich ab Mitte der vierten Klasse in unterschiedliche Spielgruppen aufteilen: "Du bist kein ´Gymkind`, mit dir spiel ich nicht.` Muss man den Kindern das Rückgrat brechen? Das sind Diskussionen, die ernster geführt werden sollten als die über die reinen Leistungsaspekte.
Das Interview wurde von Perspektive: Bildung übernommen.
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