Bericht

Medienkindheit – Wandel der medialen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen

22.12.2008

Vierter Round Table Leseförderung





Round Table Leseförderung 2008
Round Table Leseförderung 2008
Foto: Stiftung Lesen
Zum vierten Mal hatte die Stiftung Lesen mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung am 6. und 7. November 2008 zum Round Table Leseförderung nach Mainz eingeladen. Rund 40 Expertinnen und Experten aus Ministerien, Institutionen und aus der Wissenschaft waren der Einladung gefolgt, um sich über Entwicklungen und Veränderungen in der medialen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen auszutauschen. Begrüßt wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Corinna Brüntink, Referatsleiterin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, und von Heinrich Kreibich, Geschäftsführer der Stiftung Lesen.

Fachvorträge als Grundlage für die Diskussion
Prof. Stefan Aufenanger, wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Lesen und Moderator des Round Table, führte in die Thematik ein: „Das Mediennutzungsverhalten von Kindern hat sich längst verschoben, von traditionellen zu digitalen Medien“, erläuterte er. Internet, Handy, E-Mail, Chat oder SMS sind feste Bestandteile im Kinder- und Jugendalltag. Wie sich diese Tatsache auf den Stellenwert der klassischen Printmedien auswirkt und wie eine erfolgreiche Leseförderung in Zukunft aussehen sollte, waren zentrale Fragen der Fachtagung.

Im Eröffnungsvortrag gab Prof. Heinz Hengst einen Einblick in die aktuelle sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung. Impulsreferate von Prof. Stefan Aufenanger, Ingo Barlovic und Prof. Matthias Rath bildeten die Grundlage für die Diskussion in drei Arbeitsgruppen, die sich mit der Mediennutzung der 0- bis 6-Jährigen, der 6- bis 12-Jährigen und der 12- bis 18-Jährigen befassten.
Prof. Aufenanger stellte in seinem Referat Ergebnisse amerikanischer Studien vor, die belegen, dass die Nutzung elektronischer Medien bereits im frühen Kindesalter einsetzt und dass Fernseher und Computer schon für 2-Jährige zum Alltag gehören. Welche Auswirkungen diese Medienrevolution im Kinderzimmer auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen hat, veranschaulichte der Marktforscher Ingo Barlovic in seinem Vortrag. Er empfahl, die Strategien der Anbieter von Kinderprodukten für die Leseförderung zu nutzen, sich klar an den Bedürfnissen der Zielgruppen zu orientieren und die Eltern einzubeziehen.
Prof. Matthias Rath, Leiter der Forschungsstelle Jugend-Medien-Bildung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, präsentierte Ergebnisse einer empirischen Jugend-Medienstudie, in deren Rahmen über 1500 Schüler zwischen 12 und 16 Jahren zu ihrer Mediennutzung befragt wurden. Die Auswertung der Befragung ergab u. a., dass durch eine breite Medienrezeption Kompetenzen herausgebildet werden, die für das Leben in einer Mediengesellschaft von Bedeutung sind: paralleles Medienhandeln, Schnelligkeit, vernetztes Denken, Selbstlernkompetenzen und eine gute Orientierung in Hypertextstrukturen. Eine Leseförderung, die sich ausschließlich auf das klassische Medium Buch konzentriert, erreiche die so genannte "Risikogruppe" nicht, so Prof. Rath.

Diskussion in Arbeitsgruppen
Unter der Leitung der Referenten wurde die Diskussion im Anschluss an die Impulsreferate in drei Arbeitsgruppen fortgesetzt.

Ein Film aus England, in dem ein kleines Kind stundenlang Computer spielt, wurde in der Arbeitsgruppe "Frühkindliche Leseförderung" zur Verdeutlichung der Auswirkungen intensiver Mediennutzung gezeigt. Die Frage, wie Eltern aus einem bildungsfernen Milieu erreicht werden können, war Gegenstand der anschließenden Diskussion. Projekte wie "Lesestart" und "Buchstart", die bereits im Säuglingsalter mit der Leseförderung beginnen, wurden als erfolgreiche Beispiele beschrieben. In Bücher-Baby-Gruppen, wie z.B. "Gedichte für Wichte" in Hamburg, könnten Eltern direkt erleben, wie viel Freude es bereiten kann, sich gemeinsam mit dem Kind ein Buch anzusehen, Fingerspiele auszuprobieren oder Lieder zu singen. Vorhandene Strukturen und Netzwerke, wie z.B. Familienhebammen und Familienhelfer, könnten genutzt werden, um möglichst viele Familien zu erreichen. Die Vermittlung von Medienkompetenz in Kindertagesstätten müsste nach Ansicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch eine verbesserte Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher sowie durch eine angemessene Ausstattung von Kindergärten mit digitalen Medien unterstützt werden. Bei Kindern im vorschulischen Alter, so das Fazit der Arbeitsgruppe, steht allerdings das Lernen mit allen Sinnen eindeutig im Vordergrund, was jedoch nicht ausschließt an bestimmten Stellen die Potentiale kreativer Mediennutzung mit einzubeziehen.

"Was ist Leseförderung?", fragten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Arbeitsgruppe "Mediale Jugendkulturen" zu Beginn der Diskussion. Betont wurde, dass Leseförderung nicht allein die Förderung der Lesemotivation beinhaltet, sondern dass diese Bezeichnung alle Maßnahmen zusammenfasst, die darauf abzielen, bei einer bestimmten Zielgruppe das literarisches Verstehen, die Lesefähigkeit und die Lesemotivation zu fördern. Alle drei Komponenten müssten integiert im Bildungszusammenhang betrachtet werden.
Die Diskussion ergab, dass der Leseförderung ein motivationaler Schub gut tun würde. Spezifische Bedürfnisse von Jugendlichen sollten aufgriffen werden und pädagogisch sinnvoll in medienintegratives Arbeiten einbezogen werden. So könnten Bedürfnisse neu entdeckt, bzw. „geschaffen“ werden. Medienpräferenz als Ausgangspunkt der konkreten Leseförderung vor Ort könnte diese attraktiver machen. Das Lesen sollte als universales Prinzip vermittelt werden, dass in vielen Lebensbereichen von Bedeutung ist.

Hat das Lesen noch eine Chance?
Vor der abschließenden Diskussion im Plenum sprach Prof. Dr. Burkhard Fuhs von der Universität Erfurt über "Medienwelten von Kindern aus der Sicht der Kindheitsforschung". Sein Vortrag unterstrich noch einmal, dass sich die Rolle von Büchern in der modernen Medienkindheit verändert hat.

„Das Buch ist auf dem Wege, seine Vormachtstellung vielleicht nicht einzubüßen, sich aber zu verändern. Die Leseförderung muss sich fragen, inwieweit ihre Ziele und Instrumente tatsächlich der Mediennutzung der Kinder entsprechen“, so Heinrich Kreibich, der Geschäftsführer der Stiftung Lesen, in der Schlussdiskussion.

Die Frage, ob das Lesen in der modernen Medienkindheit noch eine Chance hat, kann positiv beantwortet werden, wenn sie sich auf alle Medien bezieht. Bücher allein jedoch werden es gegenüber der Attraktivität der digitalen Medien schwer haben. Darum lautete eine Forderung des Plenums, dass sich eine moderne Leseförderung verstärkt an den Medienerfahrungen und Rezeptionsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen orientieren sollte. Für die Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern sowie von Lehrerinnen und Lehrern bedeutet dies, dass das Thema Medienkompetenz verstärkt berücksichtigt werden muss.

Eine produktive Arbeitstagung
Nach zwei intensiven Arbeitstagen fuhren die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit vielen interessanten Eindrücken und Erkenntnissen wieder nach Hause.
"Der 4. Round Table Leseförderung war insgesamt gut vorbereitet, sehr interessant und anregend und für mich persönlich eine Bereicherung", so Dr. Christoph Werth vom Thüringer Kultusministerium. "Diese produktiven Arbeitstagungen im kleinen Kreis sind für uns eine sehr wichtige Austausch- und Ideenbörse."
Ebenfalls als bereichernd und ausgesprochen informativ empfand Kathrin Reckling-Freitag von der Arbeitsstelle Bibliothek und Schule der Büchereizentrale Schleswig-Holstein die Tagung. Die Fachvorträge boten der Praktikerin einen spannenden Einblick in wissenschaftliche Forschungsergebnisse. Für die Umsetzung der Erkenntnisse in der täglichen Arbeit hätte sie sich jedoch manchmal konkretere Hinweise von den Referenten gewünscht. Als engagierte Bibliothekarin liegt ihr besonders die Leseförderung mit und durch Bibliotheken am Herzen. 
Für Dr. Elvira Waldmann vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg war der Gedankenaustausch mit den anderen Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern sehr wichtig. Als Grundschulpädagogin interessierte sie sich besonders für die Sicht der Kindheitsforschung auf die moderne Medienkindheit und war erstaunt darüber, dass sich die Erfahrungen im Medienumgang sowie die Rezeptionsgewohnheiten und Interessen von Kindern und Jugendlichen so sehr von denen der Erwachsenen unterscheiden und dass Erwachsene bei vielen Themen keine gefragten Ansprechpartner mehr für die jungen Leute sein können. Bei den wissenschaftlichen Vorträgen wären aus ihrer Sicht mehr Hinweise für die Praxis bzw. noch konkreter Verwendbares für Lehrkräfte und Erzieherinnen sehr hilfreich gewesen.

Eine Dokumentation der Ergebnisse des vierten Round Table Leseförderung veröffentlicht die Stiftung Lesen im März 2009.

Autorin:
Christine Schuster

Redaktionskontakt: schuster@dipf.de