
Wörterklänge |
30.07.2008 |
Texte von Teilnehmern an Lese- und Schreibkursen
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Titelseite des Buches © Deutscher Volkshochschul-Verband |
Im Jahr 2007 stand der Schreibwettbewerb im Zeichen der Musik. Stücke von Vivaldi, Beethoven und Mozart sollten die Teilnehmer anregen, Texte zu den Themen „Mein Leben“, „Liebe und Freundschaft“ sowie „Geschichten zur Nacht“ zu verfassen. Eine Fachjury wählte aus den Einsendungen die Siegertexte aus. Den ersten Platz erreichte Murietta Bamberger mit dem folgenden Text zum Thema „Mein Leben“.
Mein Leben war wie die vier Jahreszeiten
Herbst, Winter, Frühling und Sommer
Der Herbst
Solange ich klein war, war alles noch in Ordnung.
Ich brauchte nie zur Schule,
ich konnte den ganzen Tag spielen.
Die Buchstaben brauchte ich nicht.
Der Herbst war ungemütlich, aber noch nicht kalt.
So hatte ich einen wunderschönen Herbst,
an den ich gern zurückdenke, ohne Verpflichtungen
und ohne Sorgen, was die Buchstaben bedeuten.
Doch wie jede schöne Zeit, ging auch der Herbst vorbei.
Der Winter
Doch dann kam der Winter in meinem Leben
und überall schneite es Buchstaben.
Dann musste ich zu den Behörden,
und da bekam ich Formulare.
Ging ich einkaufen, schneite es schon wieder Buchstaben.
Wie oft stand ich vor einem Reisebüro
und dachte: Ach, könnte ich doch auch nur lesen!
Wie oft stand ich vor einem Restaurant und dachte:
Da möchte ich auch gerne rein und mir etwas bestellen,
doch ich wusste, dass es unmöglich war,
denn da waren auch Buchstaben.
Und so blieb mir wieder nur der Imbiss.
Ging ich zum Arzt, hatte ich Angst,
dass sie sagen: „Bitte füllen Sie das aus!“
Dann fingen meine Hände an zu schwitzen,
das Herz an zu rasen und die Gedanken,
was sage ich jetzt.
Meine liebste Ausrede war: „Ich habe keine Brille mit.“
Mein Leben war kalt und leer, ohne Aussicht auf den Frühling,
bis ich eines Tages im Fernseher sah,
dass es noch mehr Menschen gab, die mit der Angst und den Buchstaben leben.
Ich konnte sehen, dass auch anderen Menschen
wie ich es war, geholfen werden kann.
Doch das braucht Kraft und Mut,
wenn man diesen Schritt machen will.
Ich dachte: Soll es für mich immer Winter bleiben?
Ohne Hoffnung auf den Frühling.
Der Frühling
Nein, ich werde es versuchen.
Am nächsten Tag ging ich zur Volkshochschule
und meldete mich an.
Und der Winter verging, endlich kam auch der Frühling zu mir,
der Himmel wurde blau,
die Buchstaben fingen an zu blühen
mein Leben bekam einen Sinn.
Ich bin traurig, wenn Ferien sind
und glücklich, wenn die Schule wieder anfängt
und ich weiter lernen darf.
Jetzt habe ich auch die Hoffnung auf den Sommer.
Früher machten mir die Buchstaben Angst,
heute machen sie mir Freude.
Umso mehr ich lernte, umso näher kam der Sommer.
Viele träumten von einem Auto, von einem großen Haus
oder einem Lottogewinn.
Doch ich träumte von Buchstaben,
dass ich sie richtig deuten kann.
Der Sommer
Oft hatte ich ein Tief und dachte, ich schaffe es nie.
Ich bemerkte gar nicht, dass der Sommer schon da war.
Ich konnte meine Briefe alleine lesen,
alleine einkaufen und vieles mehr.
Ja, jetzt war auch der Sommer für mich da!
Ich freute mich, wenn es Buchstaben regnete
und abends am Himmel Buchstaben funkelten.
Ja, der Sommer war jetzt auch für mich da.
Es war eine schwere Zeit, doch auch eine schöne Zeit.
Umso mehr ich lernte, umso mehr wollte ich wissen.
Darum werde ich, so lange es geht, weiter zur Schule gehen,
denn jetzt weiß ich,
was ich mein ganzes Leben versäumt habe.
Autorin:
Murietta Bamberger
Bücher mit Texten funktionaler Analphabeten
Eine Auswahl der Einsendungen zum Literaturwettbewerb „wir schreiben“ wird jährlich vom Deutschen Volkshochschul-Verband e.V. in einem Buch veröffentlicht.
„Wörterklänge“ ist der Titel der Ausgabe 2007. Sie enthält 51 Geschichten, Liedtexte und Gedichte, die für den Literaturwettbewerb eingesandt wurden. Das Buch kann beim Deutschen Volkshochschul-Verband bestellt werden.
Weitere Publikationen:
„Wörterkirmes“ 2006, ISBN 978-3-88513-772-6
„Wörterblüten“ 2005, ISBN 3-12-555102-1
„Wörtersehnsucht“ 2004, ISBN 3-12-555101-3
5. DVV-Literaturwettbewerb „wir schreiben“ 2008
In diesem Jahr steht der Schreibwettbewerb unter dem Motto „In Gedanken“. Teilnahmeberechtigt sind Lernende aus Alphabetisierungskursen und Nutzer des DVV-Alphabetisierungsportals ich-will-lernen.de. Als Schreibanlass dienen Bilder, die als 3D-Grafiken für die Lernübungen des E-Learning-Portals erstellt wurden. Die Grafiken zeigen verschiedene Schauplätze aus dem Alltag von Lernenden, beispielsweise eine Unterrichtssituation oder eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Das Lernportal ich-will-lernen.de
Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. schätzt die Zahl der erwachsenen funktionalen Analphabeten in Deutschland auf mehr als vier Millionen. Funktionale Analphabeten sind trotz absolvierter Schulpflicht nicht in der Lage, eine Zeitung zu lesen, ein Formular auszufüllen oder einen Brief zu schreiben. Das Lernportal ich-will-lernen.de bietet ihnen die Möglichkeit, kostenlos Lesen und Schreiben zu lernen. Das mehrfach ausgezeichnete Lernportal wird vom Deutschen Volkshochschul-Verband mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) entwickelt. Seit dem Projektstart im Jahr 2004 wurden mehr als 117.000 Nutzer registriert.
Kontakt:
Ursula Köther
Deutscher Volkshochschul-Verband e.V.
Hans-Böckler-Straße 29, 53225 Bonn
Tel.: (0228) 97 569-83
E-Mail: koether@zweite-chance-online.de
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