
„Voll drauf!“ von Joanna Buryn-Weitzel |
21.07.2008 |
Beitrag zum Literaturwettbewerb „Ich schreibe! 2007“
![]() |
Titelblatt der Anthologie "Ich schreibe!" |
Voll drauf!
Heute wird ein besserer Tag sein. Ich muss einfach positiv an die ganze Sache herantreten, lächeln und dann kann es doch gar nicht so schlimm werden. Einatmen, ausatmen und die Tür öffnen.
„Was grinst du so?!“, motzt mich Nicole an, sobald ich den Raum betrete. Sofort erlischt mein Lächeln. Einfach ausgeknipst. Dunkelheit.
Ich ziehe den Kopf ein, schleiche zu meinem Platz, setzte mich. Wie hatte ich nur optimistisch sein können? Schweigend packe ich meine Sachen aus. Christopher kommt an meinem Platz vorbei, stößt wie zufällig an meine Federtasche. Sie fällt. Tausend Stifte rollen über den Boden. Von hinten ertönt lautes Lachen: „Ahahaha!“, Bernard lacht laut, schallend. Das brüllende Gelächter dröhnt in meinen Ohren. Ruhig bleiben! Aufstehen! Hinknien! Aufsammeln! Bianca will auf ihren Platz, ich sitze im Weg. Ein leichter Tritt in die Seite. „Verzieh dich!“ Ich leiste dem Befehl Folge und muss die Hälfte meiner Stifte auf dem Boden liegen lassen.
„Wem gehören diese Stifte?“, fragt Frau Baumer, die nun das Zimmer betritt. Bernard verstummt. Endlich. Ich hebe vorsichtig die Hand. „Sammel’ sie doch auf!“, meint die Lehrerin schlicht.
Ich versuche den Inhalt meiner Federtasche zwischen den Beinen der Stühle und denen meiner Mitschüler herauszufischen. Mikado. Da war ich schon immer gut. Nicht wackeln und bloß niemanden berühren. Sonst hagelt es mal wieder wüste Beschimpfungen und entsetzte Schreie aus dem unglaublichen Ekel heraus. Das will ich nicht.
Die Schulglocke klingelt. Endlich habe ich meine Stifte wieder. Ich setzte mich. Carola sitzt neben mir. Ich schaue sie kurz an, sie blickt weg. Wir reden nie.
Die Stunde beginnt. Frau Baumer redet über quadratische Funktionen, stellt Fragen. Ich weiß die Antworten, aber ich melde mich nicht. Sie würden sagen, ich solle die Klappe halten. Sie würden lachen. Sie würden mir keine Chance geben. Frau Baumer hat sie eh nicht im Griff. Ich schweige, schreibe mit. Irgendwas trifft mich am Hinterkopf. Ich drehe mich schon lange nicht mehr um. Wahrscheinlich war es ein leerer Zettel oder ein Stück Radiergummi oder ein Stift, nein der ist zu schade für mich, vielleicht ein kaputtes Lineal. Ist ja auch egal.
„He, Quasimodo!“, flüsterte jemand von hinten.
Es ist Bernhard. Normale Menschen haben einen Vornamen, vielleicht zwei und einen Nachnamen. Wenn sie Glück oder Pech haben, je nach dem, haben sie auch noch einen Spitznamen. Ich habe tausende. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen: Missgeburt, Idiot, Dreckloch und so weiter. Ach ja, und auch Quasimodo.
Ich weiß nicht, ob ich mich umdrehen soll. Entweder er spielt dieses „Ich-rufe-dich-und-wenn-du-dich-umdrehst-tu-ich- beleidigt-und-schreie-rum-warum-du-mich-immer-anglotzt-Spiel“ oder er will mich anderweitig beleidigen oder mit irgendwas bewerfen. Ich sehe keinen wirklichen Sinn darin, mich demütigen zu lassen, indem ich mich zu ihm umdrehe. Ich ignoriere ihn. Bernard gefällt das anscheinend nicht. Er zieht an meiner Kapuze. Ich werde mir, wenn dieser Pullover dadurch kaputt geht, einen ohne Kapuze kaufen. Das ist zu gefährlich. Langsam neigen sich mein Stuhl und ich nach hinten. Bernard würgt mich mithilfe der Kapuze. Frau Baumer bemerkt nichts. Sie schimpft mit Nicole, da die keine Hausaufgaben gemacht hat. Wenn ich um Hilfe rufe, bin ich in der nächste Hofpause tot. Schicksalsergeben drehe ich mich um.
„Was glotzt du so?“, schnauzt Bernard sofort und findet das super lustig. Hab ich es nicht gleich gesagt? Mit einem Seufzer drehe ich mich wieder nach vorne.
„Ist gut jetzt, Bernard“, sagte Frau Baumer kurz darauf.
Er beachtet sie nicht und lacht weiter. Sie macht mit dem Stoff weiter. Niemanden kümmert es, dass mein Hals weh tut. Naja, warum sollte es auch?
Der Rest der Stunde verläuft relativ harmlos. Bernard ist es scheinbar zu langweilig geworden, mich zu ärgern. Glück für mich.
Es klingelt. Eine neue Pause. Neue zehn Minuten, die es zu überleben heißt. Mir fällt ein, warum ich heute versucht hatte, optimistisch zu sein. Sobald ich mir selbst eingestehe, wie aussichtslos meine Situation ist, bringe ich mich wahrscheinlich um oder so was. Zum Glück kann ich mich einigermaßen gut belügen. So schlimm ist es doch wirklich nicht. In anderen Ländern verhungern gerade kleine Kinder.
Ich stehe auf, räume meine Sachen in die Mappe, wechsele mit den anderen den Klassenraum. Laufe immer ein Stück dahinter. Ich gehöre nicht dazu. Niemand will mit mir gesehen werden.
Beim Raum angekommen. Immer noch fünf Minuten. Ich packe aus. Es klingelt. Die Stunde beginnt. Gut. Die Stunde zieht an mir vorbei. Neue Pause, neues Glück.
Ein paar Jungs werfen den nassen Tafelschwamm umher. Sie bemerken, dass ich alleine auf meinem Platz sitze. „He, Quasimodo, fang!“, schreit Bernard und wirft mich ab. Ich stehe wortlos auf, verlasse den Raum. Der Gang ist sicherer. Hoffentlich leben meine Schulsachen noch, wenn die Stunde beginnt.
Einige Meter entfernt von mir stehen die schicken Mädchen, die mit Make-up und Markenklamotten und tollen Freunden. Sie kichern. Ich weiß nicht weswegen. Clarissa deutet auf einen hochgewachsenen, gut aussehenden Jungen, der den Gang entlang kommt. Es ist Niclas. Er kommt auf mich zu und streicht sich das lange, braune Haar aus dem Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Tag öffne ich den Mund, sage freundlich „Hi!“
Die Mädchen starren mich an. Tja, da staunt ihr...
„Hi!“, erwidert Niclas und boxt mich kumpelhaft in die Seite.
Ich lache, boxe zurück. „Geht alles klar mit Samstag?“, fragt der Mädchenschwarm mich. „Klar, meinst du ich hab was Besseres vor, als dir bei deinem Auftritt die Daumen zu drücken und mich danach durch das VIP- Büffet zu futtern?“
Er lacht. Seine Augen blitzen. Ich lache mit. „Naja, wir sehen uns ja heute Abend bei der Probe. Find ich übrigens genial, dass du jetzt auch noch für Sara einspringst. Multitalent, was?“ Ich grinste geschmeichelt. „Hmm... na ja muss los. Bis dann!“, sagte Niclas und geht wieder.
Ich rufe ihm ein „Ciao!“ hinterher, will dann wieder in den Raum gehen. Dabei bemerke ich den fassungslosen Blick Clarissas. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielt meinen Mund. Und diesmal könnte es nicht mal Nicole ausknipsen.
Autorin:
Joanna Buryn-Weitzel, 15 Jahre
Schwedt
Das Nachwuchs-Literatur-Zentrum „Ich schreibe!“
Das Senftenberger Nachwuchs-Literatur-Zentrum ist eine Initiative der brandenburgischen Autorengruppe Wolfgang Wache, Andrea Beutel und Jana Arlt. Mit vielfältigen Aktionen wird die Entwicklung der Schreib- und Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen unterstützt. Dazu gehören der europaweite Literaturwettbewerb „Ich schreibe!“, Sommer-Schreibcamps und die Festwoche „Ich schreibe!“.
![]() |
Wolfgang Wache, Jana Arlt und Andrea Beutel auf der Leipziger Buchmesse 2008 |
Aktuelles Buchprojekt
Thema des aktuellen Buchprojektes ist der Schulalltag. Zur Leipziger Buchmesse 2009 soll eine Publikation präsentiert werden, die unter Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen erarbeitet werden soll. Geschichten und Gedichte zum Thema Schulalltag können bis zum 30. September 2008 an das Nachwuchs-Literatur-Zentrum geschickt werden.
Kontakt:
Nachwuchs-Literatur-Zentrum „Ich schreibe!” e.V.
Rudolf-Breitscheid-Straße. 17
01968 Senftenberg
Tel.: (03573) 147 663
E-Mail: nlz-ich-schreibe@gmx.de
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de