Bericht

Standardisierte Untersuchungen der Lesekompetenz und der Lesemotivation

14.03.2008

Wissenschaftliche Begleitung des Projektes "Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark!"


Titelseite der Broschüre „Lesen macht stark - Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 2007“, © IQSH
Titelseite der Broschüre „Lesen macht stark - Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 2007“, © IQSH
Die Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz zum Bildungsmonitoring (KMK, 2006) benennt als zentrale Handlungsfelder für die Weiterentwicklung des Bildungswesens: die frühzeitige Förderung von Benachteiligten, die Bereitstellung von Fortbildungskonzepten sowie von Konzepten und Materialien für muttersprachliche Kompetenzen als Aufgabe aller Fächer, die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte im Hinblick auf die Verbesserung der Diagnosefähigkeit, den Umgang mit Heterogenität und die individuelle Förderung. Das Projekt „Lesen macht stark – Niemanden zurücklassen“ (NZL) hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gruppe der schwachen Leser deutlich zu verringern und greift in seinem Ansatz damit wesentliche Handlungsfelder der KMK-Gesamtstrategie auf.

Die Wirkungen der im Projekt „Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark“ eingesetzten Maßnahmen werden unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Olaf Köller vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen aus Berlin und Prof. Jens Möller von der Universität Kiel evaluiert. Der folgende Auszug aus dem Bericht "Lesen macht stark - Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 2007" liefert Informationen zum Projektansatz und stellt die ersten Befunde der wissenschaftlichen Untersuchung in der 5. Jahrgangsstufe vor.

Das Projektkonzept
Grundannahme im Projekt „Niemanden zurücklassen“ (NZL) ist, das die Zielerreichung maßgeblich davon abhängt, ob eine Schule durch die Schulleiterin oder den Schulleiter professionell geführt wird. Professionalisierung im Sinne zielorientierter, systematischer und reflexiver Arbeit bedeutet im Kontext des Projekts, dass die Schulleiterin oder der Schulleiter kontinuierliche Unterstützung erhält, um

  • Projektziele und -inhalte zu kommunizieren und die Schulgemeinschaft für diese Ziele zu gewinnen,
  • eine Ist-Analyse der Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der vorgesehenen Verfahren vorzunehmen,
  • einen Aktionsplan zur individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler sowie zur Weiterentwicklung des Unterrichts gemeinsam mit der Schulgemeinschaft zu entwickeln,
  • diesen Aktionsplan konsequent umzusetzen und die Umsetzungsschritte zu kontrollieren sowie
  • die Wirkungen der Maßnahmen zu evaluieren.

Im Zentrum der Unterstützungsmaßnahmen für die teilnehmenden Schulen stehen externe Beraterinnen und Berater, die über einschlägige Kenntnisse und Erfahrungen im Projektmanagement und in der Personalentwicklung verfügen. Diese Beraterinnen und Berater sind direkt der Schulleiterin oder dem Schulleiter zugeordnet, um sie oder ihn bei der Umsetzung des Projekts im Sinne eines prozessbegleitenden Coachings zu unterstützen.
Im Unterschied zu Verfahren, in denen Organisationsentwicklungsprozesse durch externe Berater moderiert werden, wird beim Coaching der Führungskraft darauf gesetzt, durch gezielte Personalentwicklung die Arbeitsergebnisse der Organisation – im Projekt vor allem die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler – zu verbessern. Die zweite Grundannahme im Projekt ist, dass das Coaching eine besonders wirksame Maßnahme der Personalentwicklung darstellt, weil es direkt und maßgeschneidert auf die verantwortliche Person ausgerichtet ist.
Der Einsatz von Beraterinnen und Beratern ist Teil eines umfassenden Konzepts, zu dem Unterrichtswochenstunden für Fördermaßnahmen, Leseportfolios für Schülerinnen und Schüler, Materialordner für Lehrkräfte, Lesekompetenztests und Parallelarbeiten sowie Qualitätsforen für Lehrkräfte gehören.

Wissenschaftliche Fragestellung
Die Forschungslage zur Lesekompetenz (Artelt, Schiefele & Schneider, 2001; Guthrie nach Streblow 2004; Schiefele, 1996; Richter und Christmann, 2002) weist darauf hin, dass die Lesekompetenz in erster Linie von folgenden Merkmalen abhängig ist:

  1. Arbeitsgedächtnis, Dekodierfähigkeit und Intelligenz
  2. Vorwissen und
  3. Faktoren, die im Zusammenhang mit der Selbststeuerung des Lernens stehen.

Zu diesen letztgenannten Faktoren gehören eine positive leistungsbezogene Selbsteinschätzung, ein gutes verbales Selbstkonzept, eine hohe Lesemotivation, metakognitives Wissen und die effektive Nutzung von Lern- und Lesestrategien sowie auch Persistenz bei der Erarbeitung von Textinhalten.
Deutlich wird also, dass es zweierlei Voraussetzungen bedarf, damit Kinder und Jugendliche kompetente Leser werden: „They must possess both the skill and the will to read“ (Watkins & Coffey, 2004, S. 110). Die Lesekompetenz wird im Projekt NZL wie in den nationalen und internationalen Schulleistungsuntersuchungen mit Lesetests erfasst. Die Lesemotivation wird unterschieden in eine tätigkeitsbezogene Komponente („Leselust“) und eine gegenstandsbezogene Facette („Lesen aus Interesse“). Zudem wird das lesebezogene Selbstkonzept erfasst. Für diese Variablen ergaben sich substantielle Zusammenhänge zur Lesekompetenz (Retelsdorf & Möller, in Druck).
Es wird angenommen, dass die Tätigkeit der Berater/innen günstige Auswirkungen auf die Schule und die Lehrkräfte hat. Zu beeinflussende Komponenten könnten in erster Linie die Leseaktivität, das Selbstkonzept, die Lesemotivation und die Gestaltung des Unterrichtes selbst sein.

Anlage der Studie
Im Herbst 2006 wurde die erste Lesekompetenzerhebung durchgeführt, die der Bestimmung des Ausgangsniveaus dient. Zur Bestimmung der Größe der Risikogruppe und um Zuwächse zu beurteilen, werden in einer Kohorte standardisierte Untersuchungen der Lesekompetenz und der Lesemotivation durchgeführt. Die Erhebungen erfolgen jährlich. In den Jahrgängen, für die kein regulärer Test vorgesehen ist, wurden Parallelarbeiten mit dem Inhalt „Lesekompetenz“ geschrieben. Obwohl alle Jahrgangsstufen in die Intervention einbezogen werden, erfolgt die Testung mit Lesekompetenztests zunächst nur in der ersten Kohorte. So sind die Testinstrumente, die auch der wissenschaftlichen Begleitung im Längsschnitt dienen, für die höheren Klassenstufen erst zum jeweiligen Testzeitpunkt für Lehrkräfte zugänglich.

Projektteilnehmer/innen
Mit dem Interventionsprogramm begannen im Jahre 2006 50 Hauptschulen Schleswig-Holsteins aus 13 Schulamtsbezirken. Eine weitere Stichprobe von 9 Schulen mit ähnlicher Schülerzusammensetzung wurde als Vergleichsgruppe hinzugezogen, um die Programmeffekte überprüfen zu können. Es sind damit 155 Klassen ins Projekt einbezogen und 13 Klassen bilden die Vergleichsstichprobe. Insgesamt nahmen 1576 Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Jahrgangsstufe an der Testung zur Ausgangslage im Herbst 2006 teil und wurden im Frühjahr 2007 zum Lesen befragt. Zu den Befragungen gibt es Angaben von 2224 Schülerinnen und Schülern. Daneben wurden in der Evaluation zur Akzeptanz im Frühjahr 2007 alle beteiligten Lehrkräfte, Schulräte, Berater und die Schulleiterinnen und Schulleiter der Projektschulen befragt.

Ergebnisse der Untersuchung in der 5. Jahrgangsstufe

1. Hintergrundmerkmale
Die Schülerinnen und Schüler der 5. Jahrgangsstufe im Jahre 2006 bilden die Kohorte, deren Kompetenzentwicklung zur Bewertung des Projektes herangezogen wird. Für die Gruppe der Schülerinnen und Schüler an Projektschulen gibt es eine Vergleichsstichprobe an Schulen, die nicht an den unterrichtlichen Maßnahmen des Projektes beteiligt sind. Diese Schulen sind nur in die Testung und Befragung einbezogen, erhalten aber weder spezielle Materialien noch Unterstützung durch Beraterinnen und Berater.
Im Folgenden wird über die Ergebnisse der Ausgangslage an Projektschulen und Vergleichsschulen berichtet. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Frage, ob die Stichproben vergleichbar sind und insofern die Längsschnitterhebung zuverlässige Daten zur Effektivität des Projektes liefern kann. Dazu werden zunächst die Zusammensetzung hinsichtlich bedeutsamer Merkmale, wie Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, sonderpädagogischer Förderbedarf herangezogen und anschließend die Ergebnisse in den Lesekompetenzstests und den Fragebogenangaben verglichen.
Die Altersverteilung weist in beiden Stichproben eine Spanne von 4 bis 5 Jahren auf, wobei die durchschnittliche Abweichung unter einem Jahr liegt. In allen Jahrgangsstufen überwog der Anteil der männlichen Schüler. Der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt in beiden Jahrgängen um 20 %, der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit anerkanntem sonderpädagogischem Förderbedarf bei 10 %.

2. Ergebnisse in den Lesetests
Im Jahrgang 5 wurde die Lesekompetenz mit drei unterschiedlichen Testverfahren erfasst. Dabei zielen die einzelnen Tests auf unterschiedliche Bereiche der Lesekompetenz ab:

  1. Stolperwörtertest für die Klassenstufen 5* und höher von Peter May nach einer Konzeption von Wilfried Metze. Dieser Test erfasst das Lesetempo, die Lesegenauigkeit und das Verstehen. Es werden in einem ökonomischen Gruppentest umfassende Leseprozesse überprüft. Der Test besteht aus vorgegebenen Sätzen, in denen ein Wort eingefügt wurde, welches im Satzzusammenhang falsch ist. Über einen Abgleich mit gelernten grammatischen und syntaktischen Strukturen soll dieses so genannte „Stolperwort“ identifiziert werden. Zur Bearbeitung von 27 Sätzen wird ein Zeitrahmen von 5 Minuten vorgegeben. Die Fassung wurde nach Vortests für die schleswig-holsteinischen Hauptschüler von ursprünglich 60 Sätzen auf 27 gekürzt, um die Testzeit zu verkürzen.
    (*Der Test wurde von Hamburg zur Verfügung gestellt.)
  2. Im Lückentest oder so genannten C-Test** wird ein kurzer authentischer Text vorgegeben, bei dem in engem Abstand jeweils die zweite Hälfte eines Wortes weggelassen wurde. (Autoren: Melanie Spettmann, Prof. Rupprecht Baur). Diese 20 Lücken sollen innerhalb von 7 Minuten mit den richtigen Worten gefüllt werden. Damit wird sprachliches Wissen über den Aufbau von Texten, lexikalisch-grammatische Kompetenz und Sprachverständnis geprüft.
    (**3 Der Test wurde von Hamburg zur Verfügung gestellt.)
  3. Der Leseverständnistest wird über zwei Texte mit Fragen repräsentiert und erfasst die Verstehensaspekte von Lesekompetenz analog zu PISA und IGLU (Dauer: 10 und 30 Minuten). Die Auswahl des Lesetextes „Mäuse auf dem Kopf“*** ermöglicht einen Vergleich mit den repräsentativen Daten der in Schleswig-Holstein durchgeführten LISA-Studie (Lesen in der Sekundarstufe, Möller, 2005).
    (*** Der Test wurde vom nationalen IGLU Koordinator Prof. Wilfried Bos zur Verfügung gestellt.)

Hinsichtlich der Ergebnisse in der Basiserhebung im Stolperwörter-, Lücken- und Leseverständnistest erreichen Schülerinnen und Schüler der Projektschulen und der Vergleichsschulen in Mittelwert und Streuung ähnliche Werte. Die Mittelwerte beider Gruppen unterscheiden sich nicht statistisch bedeutsam voneinander.

Die ausgewerteten Daten zu den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern belegen, dass die Vergleichsschulen für den 5. Jahrgang in den wesentlichen Merkmalen der Schülerzusammensetzung wie Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und sonderpädagogischem Förderbedarf mit den Projektschulen übereinstimmen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die vergleichende Datenanalyse. Das Ausgangsniveau in der Lesekompetenz unterscheidet sich nicht bedeutsam zwischen Schülerinnen und Schülern der Projektschulen und Vergleichsschulen. Darüber hinaus weist der Vergleich zur repräsentativen LISA-Stichprobe darauf hin, dass die Stichproben der Projektschulen und Vergleichsschulen eine hinsichtlich der Leseleistungen ganz normale Auswahl schleswig-holsteinischer Hauptschulen darstellen. Als Grundlage für einen Vergleich von Kompetenzzuwächsen ist damit ein gleiches Ausgangsniveau gegeben.

3. Ergebnisse auf Schulniveau
Ein Vergleich der Ergebnisse der Lesetests auf Schulniveau zeigt, dass die Klassen an den verschiedenen Schulen sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Der Vergleich zwischen den Schulen erfolgt auf der Basis T-transformierter Werte (MW 50, SD 10).
Im Stolperwörtertest schneiden zwei Vergleichsschulen überdurchschnittlich ab, die sieben übrigen Schulen liegen im Durchschnittsbereich. Von den Projektschulen liegen sieben Schülergruppen über dem Durchschnitt, neun darunter und zwei Drittel im Durchschnittsbereich.
Die Ergebnisse im Lückentest liegen für neun Schulen signifikant über dem Mittelwert und für andere neun Schulen unter dem Mittelwert. Damit zeigt sich eine relativ große Diskrepanz in den Leseleistungen zwischen den Hauptschulen.
Im Leseverständnistest schneiden sieben Schulen überdurchschnittlich ab, während neun Schulen Werte unter dem Durchschnittsbereich erzielen, darunter ist eine Vergleichsschule.

4. Ergebnisse zu Leseinteresse, Lesemotivation und Leseaktivität
Die Lesekompetenz ist von einer Reihe von familiären, schulischen und individuellen Variablen abhängig. Im Schülerfragebogen wurden hier wie oben beschrieben die Leseaktivität, die Lesemotivation und das lesebezogene Selbstkonzept erfasst (nach Möller & Bonerad, 2007). Im Folgenden sind die Ergebnisse der Schülergruppen der Projektschulen und Vergleichsschulen der 5. Jahrgangsstufe gegenübergestellt. Insgesamt lässt sich daran ablesen, dass die Gruppen der zum Vergleich stehenden Schulen sich in keinem der hier betrachteten Aspekte unterscheiden.

Ergebnisse der Schülerbefragung zur täglichen Lesezeit
Ergebnisse der Schülerbefragung zur täglichen Lesezeit

Ergebnisse der Schülerbefragung zur Zeit, die täglich vor dem Pc oder dem Fernseher verbracht wird
Ergebnisse der Schülerbefragung zur Zeit, die täglich vor dem Pc oder dem Fernseher verbracht wird

Ergebnisse der Schülerbefragung zu Leseselbstkonzept, Leseinteresse und Leselust
Ergebnisse der Schülerbefragung zu Leseselbstkonzept, Leseinteresse und Leselust

Zusammenfassend zeigen die in diesem Kapitel aufgeführten Ergebnisse, dass die Schülergruppen an den Projektschulen und den Vergleichsschulen sich weder in den Hintergrundmerkmalen, noch den durchschnittlichen Ergebnissen der Lesetests und auch nicht in ihrem Leseverhalten, Leseselbstkonzept, der Leselust und dem Leseinteresse unterscheiden. Damit ist eine wesentliche Grundlage für eine Evaluation der Projekteinflüsse durch die kommende zweite Erhebung im Frühjahr 2008 gegeben.

Projektleitung und Träger des Projektes
Das Projekt "Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark!" wurde in Schleswig-Holstein unter der Leitung von Herrn Dr. Thomas Riecke-Baulecke 2006 an 50 Hauptschulen in Schleswig-Holstein begonnen. Im Jahre 2007 sind 40 weitere Schulen hinzugekommen. Die Laufzeit beträgt zwei Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit auf drei Jahre. Träger des Projektes sind das Ministerium für Bildung und Frauen, das Ministerium für Justiz, Arbeit und Europa, das Jugendaufbauwerk und das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein. Die wissenschaftliche Begleitung des Projektes durch Herrn Prof. Dr. Olaf Köller (IQB, Berlin) und Herrn Prof. Dr. Jens Möller (CAU, Kiel) evaluiert die Wirksamkeit und Akzeptanz des Programms.

Autoren:
Prof. Dr. Olaf Köller
Prof. Dr. Jens Möller
Dr. Gesa Ramm

Publikation:
Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (Hrg.)
Lesen macht stark - Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 2007
Kronshagen, Januar 2008


Redaktionskontakt: schuster@dipf.de