Bericht

Bundesweite Studie zum Vorlese-Alltag

14.01.2008

42 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern zu selten oder gar nicht vor





Studie
Studie "Vorlesen in Deutschland 2007"
Quelle: Stiftung Lesen, Die ZEIT, DB AG
Am 19. November 2007 veröffentlichten die Deutsche Bahn AG, DIE ZEIT und die Stiftung Lesen die Ergebnisse der Studie „Vorlesen in Deutschland 2007“.
Die letzte ausführliche Untersuchung zum Thema „Familie und Lesen“ wurde im Jahr 1988 durchgeführt. Das „Erziehungsziel Lesefreude“ stand damals bei den Befragten  nur auf Rang 16 von 20 Erziehungszielen. Im Jahr 2002 ergab eine Zeitbudget-Analyse des Statistischen Bundesamtes, dass zwei von drei Eltern ihren Kindern nicht vorlesen.
Für die neue Studie wurden im Herbst 2007 in einer ersten Umfrage 5.700 Personen ab 16 Jahre, darunter 1.000 Eltern von Kindern unter 14 Jahren, befragt. Eine zweite Umfrage richtete sich an 250 Familien mit türkischem Migrationshintergrund und deren Kinder im Vor- bzw. Grundschulalter. Durchgeführt wurden die Befragungen vom Institut für Lese-und Medienforschung der Stiftung Lesen, dem Institut für Demoskopie Allensbach und Enigma/GfK, Wiesbaden.

Vorlesen in der Familie ist nicht selbstverständlich
Die repräsentative Studie ergab, dass regelmäßiges Vorlesen in der Familie in Deutschland keineswegs selbstverständlich ist und dass das „beste Vorlesealter“ oft ungenutzt verstreicht: 42 Prozent der Eltern von Kindern unter zehn Jahren lesen nur unregelmäßig oder gar nicht vor, fast ein Fünftel liest überhaupt nicht. In Familien mit türkischer Herkunftssprache wird der Vorlese-Bedarf noch deutlicher: vier Fünftel der Eltern lesen nicht regelmäßig und vier von zehn Eltern überhaupt nicht vor.



Der zentrale Befund der Studie
Der zentrale Befund der Studie "Vorlesen in Deutschland 2007"
Quelle: Stiftung Lesen, Die ZEIT, DB AG


Die Vorlese-Biografie
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass 21 Prozent der Eltern mit Kindern unter 3 Jahren nur „gelegentlich“ vorlesen und dass weitere 21 Prozent dieser Eltern „gar nicht“ vorlesen. Vorlese-Rituale sind jedoch nach Meinung von Experten bereits in dieser Entwicklungsstufe essenziell für den Spracherwerb, für das Begreifen der Welt und für die emotionale Entwicklung. 42 Prozent aller Eltern nutzen diese Chance nicht und verzichten auf die preiswerteste Investition in die Zukunft ihrer Kinder.
Eine „Vorlese-Diät“ verzeichnen die Ergebnisse der Studie im Kindergartenalter: 22 Prozent der Eltern von 3- bis 6-jährigen Kindern lesen nur „gelegentlich“ vor, weitere 11 Prozent „gar nicht“. Da es in diesem Alter um die Vorbereitung auf die Schule geht, benachteiligen 33 Prozent der Eltern ihre Kinder, so die Experten-Einschätzung.
Nach der Einschulung ist ein „Vorlese-Knick“ zu beobachten. Eltern von 6- bis 10-jährigen Kindern ziehen sich als Vorleser zurück: 26 Prozent lesen „gelegentlich“ vor, weitere 21 Prozent „gar nicht“. Dieses Negativ-Muster gilt es zu durchbrechen, denn Schulkinder brauchen mehr, nicht weniger Vorlese-Engagement ihrer Eltern, sagen Experten.



Die Vorlese-Biografie
Die Vorlese-Biografie
Quelle: Stiftung Lesen, Die ZEIT, DB AG


Warum lesen Eltern vor und warum nicht?
Pädagogischer Ehrgeiz ist nicht das Hauptmotiv der Eltern beim Vorlesen. 84 Prozent der vorlesenden Eltern sagen: „Mir macht es Spaß“. 78 Prozent schätzen am Vorlesen besonders die gemeinsame Zeit mit den Kindern und 65 Prozent erklären, aus pädagogischen Gründen vorzulesen.

Und warum lesen Eltern nicht vor? „Mir fehlt die Zeit dafür“, sagen 30 Prozent der deutschen und 50 Prozent der türkischen Eltern von Vorschulkindern sowie 46 Prozent der deutschen und 53 Prozent der türkischen Eltern von Grundschulkindern.
„Ich bin kein so guter Vorleser“ meinen 46 Prozent der deutschen und 39 Prozent der türkischen Eltern von Vorschulkindern und 31 Prozent der deutschen und 47 Prozent der türkischen Eltern von Grundschulkindern.
Viele Nicht-Vorleser vermuten, dass ihre Kinder elektronische Medien vorziehen. Hier zeigen die Untersuchungsergebnisse große Unteschiede zwischen deutschen und türkischen Eltern. Dass ihre Kinder lieber Computerspiele spielen, meinen 11 Prozent der deutschen, aber 66 Prozent der türkischen Eltern von Vorschulkindern und 23 Prozent der deutschen, aber 72 Prozent der türkischen Eltern von Grundschulkindern.
"Meine Kinder sehen lieber fern", meinen 16 Prozent der deutschen, aber 71 Prozent der türkischen Eltern von Vorschulkindern und 29 Prozent der deutschen, aber 76 Prozent der türkischen Eltern von Grundschulkindern.

Die Studie bestätigte die hohe Schichtbezogenheit der Vorlesepraxis: Je niedriger die Schulbildung, je geringer das monatliche Haushalts-Nettoeinkommen und je einfacher der Berufskreis, um so weniger Eltern lesen vor.

Sprachpraxis in Migrationsfamilien
Wer die Vorlesekultur in Familien mit Migrationshintergrund stärken möchte, muss die facettenreiche Sprachpraxis vor Ort berücksichtigen.
Die Frage nach der gesprochenen Sprache in der Familie ergab, dass in der Mehrheit der türkischen Familien, 53 Prozent, beide Sprachen gesprochen werden. 42 Prozent der Befragten sprechen hauptsächlich Türkisch und nur 5 Prozent hauptsächlich Deutsch.
In ihrer Freizeit und mit Freunden sprechen die Kinder aus den befragten türkischen Familien hauptsächlich Deutsch: 52 Prozent. 41 Prozent gaben an, dass sie in der Freizeit und mit Freunden beide Sprachen sprechen und 7 Prozent sprechen hauptsächlich Türkisch.

Fazit der Studie
  • 42 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern nicht regelmäßig vor.
  • 80 Prozent der Eltern mit türkischem Migrationshintergrund lesen ihren Kindern nicht regelmäßig vor.
  • Bei Schuleintritt der Kinder ist ein Vorlese-Rückgang anstelle des wünschenswerten Anstiegs zu beobachten.
  • Vorlese-Förderung bei Migrantenfamilien steht dabei vor speziellenAufgaben: Sie muss die Sprachpraxis stärker berücksichtigen – ebenso den besonderen Stellenwert elektronischer Medien in vielen dieser Familien.
  • Die hohe Schichtbezogenheit der Vorlesepraxis hat sich erneut bestätigt.
  • Mütter sind der entscheidende Faktor für die Lesesozialisation.
  • Wer selbst gerne vorliest, liest auch regelmäßiger vor.

Schulkinder brauchen mehr Vorlese-Engagement
„Kindern, denen nicht regelmäßig vorgelesen wird, werden Bildungschancen vorenthalten“, sagte Ralf Klein-Bölting, Generalbevollmächtigter Konzernmarketing und Kommunikation der Deutschen Bahn AG, bei der Präsentation der Studie in Berlin. Das Unternehmen ist seit elf Jahren Partner der Stiftung Lesen – und zum vierten Mal initiierte die Wochenzeitung DIE ZEIT gemeinsam mit beiden Partnern und weiteren Unterstützern den bundesweiten Vorlesetag am 23. November 2007. „Fatal sei es, dass sich besonders viele Eltern nach Einschulung ihrer Kinder als Vorleser zurückziehen“, so Klein-Bölting. „47 Prozent der Eltern von Schulkindern sind nur gelegentliche Vorleser oder lesen gar nicht vor. Schulkinder brauchen jedoch mehr, nicht weniger Vorlese-Engagement.“ Laut dem DB-Manager ist eine lebendige Vorlesekultur Fundament des Bildungssystems: „Daher unterstützt die Deutsche Bahn als Mitglied der Stiftung Lesen den bundesweiten Vorlesetag.“

Vorlese-Vorbilder sollen Eltern motivieren
Erstmals hat eine Vorlese-Studie Familien mit türkischem Migrationshintergrund besonders in den Blick genommen: „Hier lesen 80 Prozent der Eltern nicht regelmäßig vor,“ erklärte Dr. Rainer Esser, Geschäftsführer DIE ZEIT. Der Vorlesetag wies im vierten Jahr eine Rekordbeteiligung auf. Mehr als 7.000 Vorleser waren deutschlandweit aktiv dabei, darunter rund 670 Politiker und Prominente aus Kultur, Medien und Sport. Mehr als 200.000 Kindern und Jugendlichen wurde an diesem Tag vorgelesen, in Kindergärten, Schulen, Bibliotheken und Kinderheimen. Das waren rund dreimal so viele Vorleser wie im Jahr 2006. Esser zufolge verfolgt der Vorlesetag zwei Ziele: „Zum einem möchten wir durch die Vorlese-Vorbilder Eltern motivieren, zum anderen das Netzwerk ehrenamtlicher Vorlesepaten stärken.“ 9.000 Mitglieder des Vorleseclubs im Rahmen der gemeinsamen Initiative lesen regelmäßig in pädagogischen Einrichtungen vor.

Großes Potenzial für wachsendes ehrenamtliches Engagement
Die Studie „Vorlesen in Deutschland 2007“ dokumentiert laut Heinrich Kreibich, Geschäftsführer der Stiftung Lesen, ein großes Potenzial für wachsendes ehrenamtliches Engagement: „Bereits jetzt liest jeder fünfte Erwachsene ohne eigenen Nachwuchs im Vorlesealter Kindern vor. Der Vorlesetag sowie das ganzjährige Vorlese-Netzwerk, das insbesondere bei der sprachlichen Integration von großer Bedeutung ist, sind also noch lange nicht an Grenzen gestoßen - und dass dringender Bedarf besteht, wird durch die Studie ebenfalls belegt.“ Kreibich wies darauf hin, dass die Studie die „hohe Schichtbezogenheit der Vorlesepraxis“ belege: „Je niedriger die Schulbildung, je geringer das Haushalts-Nettoeinkommen, desto weniger Eltern lesen vor.“

Leseförderungsinitiative für Kinderheime gestartet
Am bundesweiten Vorlesetag startete die Deutsche Bahn in Kooperation mit der Stiftung Lesen eine bislang einzigartige Leseförderungsinitiative für eine besonders wichtige Zielgruppe: Die Ausstattung von 500 Kinderheimen in Deutschland mit Vorlesekoffern mit jeweils 30 Kinderbüchern sowie didaktischen Spielen und Lesetipps. Angelegt als nationale Kampagne soll diese Initiative in den Folgejahren in weiteren Kinderheimen fortgeführt werden. Kooperationspartner sind die Verlage Ravensburger, Carlsen und Family Media.


Bundesweite Kampagne "Lesestart" beginnt am 29. Mai 2008
Je früher das Lesen einen festen Platz im Alltag hat, umso einfacher ist der Zugang zu Wissen, Kreativität und Fantasie. Darum startet im Sommer 2008 bundesweit die nationale Kampagne „Lesestart – Die Lese-Initiative für Deutschland“. Vorbild für diese bundesweite Aktion sind das britische Projekt „bookstart“, bei dem landesweit Kinder bis vier Jahre kostenlos mit Büchern und Lesetipps versorgt werden und das dreijähriges Modellprojekt „Lesestart – Mit Büchern wachsen“ des Freistaates Sachsen und der Stiftung Lesen, das im November 2006 angelaufen ist.
Ab Sommer 2008 erhalten im Laufe von zwei Jahren 500.000 einjährige Kinder und ihre Eltern die kostenlosen Lesestart-Materialien bei den Kinderärzten im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U6. Zu dem Set gehören u. a. ein Ravensburger Bilderbuch, ein Vorlese-Ratgeber für die Eltern, eine Buchtipp-Broschüre der Zeitschrift ELTERN, ein Poster und ein kleines Mitmach-Tagebuch, in dem die Lese- und Sprachentwicklung des Kindes festgehalten werden kann.
Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA), Unternehmen der Druck- und Papierbranchen, namhafte Verlage und Institutionen haben sich mit der Stiftung Lesen zu einer Allianz zusammengeschlossen, um das Projekt zur frühkindlichen Leseförderung zu realisieren. Sozialpolitische Unterstützung erhalten sie dabei vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj.e.V.), dem Gesamtverband Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband und vom Bundeselternrat.

Kontakt:
Sabine Bonewitz
Stiftung Lesen
Familie und Kindertagesstätte
Römerwall 40
55131 Mainz
E-Mail: Sabine.Bonewitz@stiftunglesen.de 

Redaktionskontakt: schuster@dipf.de