interview

Bundesweite Kampagne „Lesestart“

26.07.2007

Großprojekt für junge Familien zum Thema Leseerziehung





Heinrich Kreibich
Heinrich Kreibich
Lesen in Deutschland:
Im Sommer 2008 startet bundesweit die Kampagne „Lesestart – Die Leseinitiative für Deutschland“. Was sind die Gründe für diese Kampagne und worum geht es dabei?

Kreibich: Zunächst etwas zur Historie: Die Idee kommt aus England. Wir haben vor etwa vier Jahren bei EU*READ, das ist ein Zusammenschluss europäischer Leseförderungsorganisationen, dessen Chairman ich bin, und dem unter anderem England angehört, beschlossen, dass wir den Mitgliedsländern Bookstart präsentieren wollen. Das Prinzip ist relativ einfach. Es wird versucht, „buchferne“ Familien zu erreichen, indem man ihnen ein Lesestartset, also ein erstes Bilderbuch, eine Elternfibel und ähnliches gibt, um ihnen zu zeigen, dass Spracherziehung und Leseförderung eigentlich die preiswertesten Investitionen in die Zukunft des eigenen Kindes sind.

In England gab es eine langjährige Begleituntersuchung zu dem Projekt „Bookstart“, die zeigte, dass es tatsächlich so ist, dass diese Bookstart-Kinder leichter lesen lernen und motivierter sind. Das war der Anlass dafür, zu überlegen, wie kann man so etwas in Deutschland machen. Allerdings geht das nicht eins zu eins. Während in England die Sozialarbeiter in die Familien gehen, haben wir in Deutschland die Kooperation mit den Kinderärzten gesucht. Kinderärzte deshalb, weil 95 Prozent der Familien zur U6-Untersuchung gehen, auch jene Eltern, die nicht Elternabende oder ähnliche Veranstaltungen besuchen.

Lesen in Deutschland: In England gibt es das Projekt seit 15 Jahren. Warum bei uns erst jetzt?

Kreibich: Das ist ganz schlicht. Es hängt mit der Finanzierung zusammen. In England hat der jetzige Premier Brown im vorigen Jahr ein Finanzierungsprogramm in Höhe von 27 Millionen Pfund aufgelegt, das ermöglicht, dass jedem Kind ein erstes Bilderbuch geschenkt wird. In Deutschland wird von Seiten des Bundes in diesem Bereich nichts getan – im Unterschied zu den Niederlanden, zu Belgien. Und auch im Unterschied zu Südtirol, wo wir als Stiftung Lesen das Projekt selbst initiiert haben. In diesen Ländern gelingt es, die Politik mit ins Boot zu nehmen und damit entsprechende finanzielle Mittel bereitgestellt zu bekommen. Wir haben in Deutschland eine Geburtskohorte von ungefähr 700.000 Kindern, was in etwa dem der englischen Geburtskohorte entspricht. Um mit England in der Leseförderung gleichzuziehen, müsste die Bundesregierung über das Familienministerium eben auch ähnliche Mittel wie in England bereitstellen.

Wir haben aber zumindest erreicht, dass es in Deutschland in Sachsen einen Flächenversuch gibt, der seit November 2006 läuft. Daran und an der Begleitforschung, die von der Universität Leipzig vorgenommen wird, ist das Familienministerium beteiligt Die anderen Partner sind das sächsische Sozialministerium, der Ravensburger Buchverlag und die Stiftung Lesen, die einen erheblichen Teil der Mittel für diesen Flächenversuch mit 30.000 Kindern aufbringen. Dort ist man also engagiert. Deshalb waren wir auf der Suche, wie könnte dieses Projekt bundesweit installiert werden. Mit dem Verband der Maschinen- und Anlagenbauer haben wir jemanden gefunden, der sich für die frühe Leseförderung engagieren wollte und auch selbst bereit war, weitere Partner zu gewinnen. Jetzt sind es 15 Wirtschaftsunternehmen, die eine nationale Lesestartkampagne unterstützen wollen. Unser gemeinsames Anliegen ist es, den ersten Schritt zu gehen, um die Politik herauszufordern, in diesem Bereich mehr zu tun.

Lesen in Deutschland: Auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse können Sie sich stützen? Gibt es Studien darüber, dass Kinder, die sehr früh mit Büchern in Berührung kommen, später über eine hohe Lesekompetenz verfügen?

Kreibich: In England gibt es dazu Studien, bei uns nicht. Außer bei dem Flächenversuch in Sachsen. Dort ist eine projektbegleitende Evaluation vorgesehen, so dass wir sehen werden, wie sich die „Lesestart-Babys“ innerhalb der nächsten zwei/drei Jahre entwickeln werden. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, ob wir über die Aktion die Eltern und eine andere Aufmerksamkeit gewinnen. Schließlich geht es darum, die 30 Prozent der Familien zu erreichen und auf die Entwicklung ihrer Kinder aufmerksam zu machen, die nie ein Buch lesen. Wir hoffen darauf, dass die Beratungen beim Kinderarzt einen ähnlichen Effekt haben, wie die Arbeit der Sozialarbeiter in England, die in die Familien gehen.

Lesen in Deutschland: Die Bereitstellung von Büchern ist die eine Seite. Wie kann es auf der anderen Seite gelingen, dass Eltern dieses Angebot tatsächlich nutzen und mit ihren Babys Bücher betrachten, fühlen, schmecken…?

Kreibich: Hier können wir nur hoffen, dass die Erfahrungen, die es in England gibt, bei uns ebenfalls zutreffen. Offenbar sind Eltern einfach nur erfreut, wenn sie so etwas geschenkt bekommen. Bei uns gibt es positive Erfahrungen im Rahmen des Modellversuchs in Heidelberg, den wir zusammen mit der Lautenschläger-Stiftung machen. Dort bekommen Mütter direkt nach der Geburt ihres Kindes ein Lesestartset. Zu diesem Zeitpunkt herrscht bei den Müttern eine ganz andere Aufmerksamkeit für ihr Baby, auch bei den Müttern, bei denen zu Hause keine Bücher stehen und die auch nie welche kaufen würden. Die Effekte muss man jetzt erst einmal abwarten. Aus den Ergebnissen in Sachsen erhoffen wir uns Erfahrungen für die nationale Kampagne, die das einzige Großprojekt für junge Familien zum Thema Leseerziehung ist.

Lesen in Deutschland: Es gibt bereits regionale Initiativen zum frühen Lesestart – in Sachsen, Hamburg, Heidelberg und weiteren Orten. Wie laufen dort die Aktionen?

Kreibich: Sachsen ist eines der Länder, die in der Leseförderung an der Spitze stehen. Dort ist die Aktion flächendeckend für die gesamte Geburtskohorte und mehrjährig. Das heißt, die Kinder werden zweimal ausgestattet: einmal über den Kinderarzt und später durch die sächsischen Bibliotheken. Wir arbeiten in Sachsen eng mit dem Kultusministerium, Bereich Schule, und mit dem Sozialministerium zusammen. Geplant ist eine curriculare Entwicklung der Leseförderung, die von der Familie durchgängig bis in die 9. Klasse reichen soll. Das findet man so konzeptionell und strategisch vorbereitet kaum in anderen Bundesländern. Allerdings gibt es in Sachsen wenige Kinder mit Migrationshintergrund und deshalb fallen weniger Kosten an. Dennoch bleibt es ein Riesenaufwand.

Die kleinen Initiativen werden von uns zum Teil begleitet und unterstützt. Im Juni haben wir einen internationalen Workshop mit Unterstützung des BMFSFJ dazu veranstaltet, wie denn die nationale Initiative, die 2008 gestartet wird, auch in Kooperation mit den regionalen Initiativen vorangetrieben werden kann. Alle haben sich bereiterklärt, ihre Programme und Projekte unter eine gemeinsame Dachmarke zu stellen und diese ist eben „Lesestart – Die Leseinitiative für Deutschland“. Wir sind gerade dabei, entsprechende Aufkleber für deren Materialien zu produzieren, damit klar wird, dass diese regionalen Projekte Teil der nationalen Lesestartinitiative sind. Denn wir wollen keine Uniformiertheit haben, sondern Vielfalt in der Erreichung der Ziele.

Lesen in Deutschland: Wie wird gewährleistet, dass nächstes Jahr die Aktion flächendeckend beginnen kann und wer unterstützt die Kampagne?

Kreibich: Im Moment reisen wir durch die Bundesländer und können dort auf die bereits vorhandenen Mittel verweisen und zugleich deutlich machen, wie viel noch fehlt, um eine Vollversorgung zu gewährleisten. Einige Länder sagen sofort nein, weil sie über das Geld nicht verfügen. Andere, wie Nordrhein-Westfalen oder Hessen, befassen sich intensiv mit diesem Vorschlag. Vielleicht gelingt es noch, weitere Bundesländer für dieses Projekt zu gewinnen.

Wir haben einen langen Vorlauf gewählt, auch deshalb, um Medienpartner zu gewinnen. Dabei ist zum Beispiel Gruner & Jahr mit der Zeitschrift Eltern, die eine Sonderausgabe zum Projekt „Lesestart“ machen werden.
Bei der Stiftung Lesen wird es eine professionelle Internetplattform geben, die wir mit Amazon – neuerdings ebenfalls Partner – zusammen machen. Jeder wird sich informieren können, was in seiner Region läuft. Bücher und Medien werden empfohlen. Es wird eine Liste der Kinderärzte geben, die mitmachen, um deutlich zu zeigen, wer ist beteiligt, wer engagiert sich. Dabei ist der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, der sich vor allem um junge türkische Mütter kümmern will. Auf dem Workshop im Juni haben die Bibliotheken angeboten, dass sie Kontakte zu den Kinderärzten aufnehmen sowie weitere Mittel akquirieren. Gegenwärtig werden von uns Sponsoringbriefe vorbereitet, mit denen sich die Bibliotheken an regionale Unternehmen, an Bürgermeister, an Jugendämter und andere wenden können, um aus der Region Unterstützung für die Lesestartsets zu bekommen.

Lesen in Deutschland: Die Kinderärzte wurden als Kooperationspartner gewonnen. Kann man den Ärzten allein die Verantwortung überlassen?

Kreibich: Unser Ansatz ist, wie erreichen wir die 30 Prozent der lesefernen Familien. Letztmalig erreichen wir sie in der Untersuchung U6. Es ist ja so, dass die Sprachentwicklungsverzögerungen bei Kindern zunehmen. In Deutschland ist das bei 32 Prozent der Kinder der Fall. Es sind meist die Kinderärzte, die erkennen, dass die Kommunikation in den Familien ein Problem ist. Sie können feststellen, dass Kind ist körperlich gesund und zugleich beratend fragen: Was machst du noch mit deinem Kind, damit es sich auch umfassend gesund entwickelt. Darüber hinaus ist der Kinderarzt für die Eltern eine Autoritätsperson. Natürlich ist auch ein Erziehungsverbund notwendig. Die Kindergärten müssen dabei sein und die Bibliotheken, denn vielen buchfernen Eltern sind Bücher einfach zu teuer. Das ist ihr Hauptargument. Insofern müssen wir gemeinsam mit den Bibliotheken eine Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von Lesestart betreiben, die den Eltern deutlich macht, hier bekommt ihr Bücher umsonst, ihr braucht nicht großartig Geld auszugeben, damit eure Kinder sich sprachlich weiterentwickeln.

Heinrich Kreibich, Jahrgang 1951, Dipl.-Päd., ist Geschäftsführer, der Stiftung Lesen. Er studierte Erziehungswissenschaft an der Hochschule der Bundeswehr München und war Lehrbeauftragter an der Universität Mainz. Veröffentlichungen u.a.: Lesemotivation und Leseförderung in Familie und Kindergarten, 1992; Strukturwandel oder Substanzverlust?, 1992; Kindermedien ? Medienkinder; Lesesozialisation in Familie und Kindergarten, 1994; Leseförderung: In Kooperation von Kindergarten und Eltern, 1995; Von Bücherwürmern und Leseratten. Wie Kinder Spaß am Lesen finden, 1994; Spaß am Lesen, Ein Ratgeber für Eltern, 2003; Kreibich, H., Aufenanger, Stefan (Hrsg.): Leseförderung und Diversität. Schriftenreihe der Stiftung Lesen Bd 1, 2007

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