
„Kinder vertragen jede Form von Kunst“ |
22.02.2007 |
TEIL II: Prof. Jens Thiele betont bildnerische Experimentierfreude als Qualitätskriterium von Bilderbüchern
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Prof. Dr. Jens Thiele |
Lesen in Deutschland: Weshalb ist die frühe ästhetische Bildung von Kindern so wichtig?
Jens Thiele: Sie ist so wichtig, weil wir in einer gestalteten Umwelt leben und weil diese ja aus unendlich vielen Bildformen, Bildkategorien und Genres besteht. Bedenken Sie, was ein Heranwachsender an Medienangeboten vorfindet von Computerspielästhetik über Film, Fernsehen, Video, Comics, Kunstwerke. Und diese Bilder sind sehr komplex. Hier gilt es, den Heranwachsenden so etwas wie eine visuelle Kompetenz zu vermitteln. Ich muss ihnen ja auch Strategien vermitteln, um Bilder zu verstehen. Bilder können mich auch manipulieren, sie können mich übers Ohr hauen, können mich hinters Licht führen. Daher braucht es schon eine gewisse Erfahrung und eine systematische Bildung im Umgang mit Bildern. Das geschieht natürlich nicht allein am Bilderbuch. Aber bei der Bilderbuchbetrachtung werden die Grundlagen gelegt. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass man beim Bilderbuchlesen mit Kindern auch über einzelne Bilder spricht und nicht nur über den Inhalt. Ich denke, wer in der derzeitigen Medienkultur keine ästhetische Bildung erfahren hat, hat es schwer und ist den Bildern, die da um die Ohren und Augen fliegen, ziemlich ausgeliefert.
Lesen in Deutschland: Auf den Bildern des Bilderbuchs kann sich das Kinderauge ausruhen, im Gegensatz zu bewegten Bildern. Sie fordern seit einigen Jahren dazu auf, sich der durch die modernen Medien veränderten Wahrnehmung heutiger Kinder zu stellen. Sie sehen eine Diskrepanz zwischen den Bildinteressen der Kinder und den Vorstellungen vieler Erwachsener vom „kindgerechten“ Bild. Inwiefern hat sich die Wahrnehmung der Kinder verändert?
Jens Thiele: An stehenden Bildern, die nicht vorbeischießen, kann man erst einmal in Ruhe etwas entdecken. Diese stehenden Bilder müssen aber keineswegs einfach im Sinne von trivial sein. Die Vorstellung, dass wir mit ganz einfachen Bildern anfangen und uns im Laufe der Entwicklung zu immer komplizierteren Bildformen hocharbeiten, ist nicht haltbar. Vieles, was in der Medienkultur angelegt ist, zum Beispiel die Montage von einzelnen Bildelementen, taucht ja auch in Bilderbüchern auf, wenn auch nicht in dieser verdichteten Form. Aber ich glaube, dass Kinder durchaus auch schon in frühen Jahren Grundprinzipien von medialen Bilderzählungen kennenlernen sollten. Die Kinder betrachten ja nicht nur Bilderbücher, sondern haben auch alle anderen Medien verfügbar.
Lesen in Deutschland: Sie sind Befürworter einer großen künstlerischen Bandbreite von Bilderbuchillustrationen. Viele Experten sind anderer Meinung und schimpfen über die zunehmend auf dem Buchmarkt erscheinenden „Kunst- beziehungsweise Erwachsenenbilderbücher“. Wie viel Kunst verträgt denn nun das Kind?
Jens Thiele: Ich würde sagen, das Kind verträgt erst einmal jede Form von Kunst. Die Probleme, die wir Erwachsenen sehen, sind ja sozusagen hausgemacht. Wir projizieren unsere Schwierigkeiten im Umgang mit Abstraktion oder mit einer bestimmten Kunstnähe auf das Kind und dessen Wahrnehmung von Bildern. Kinder sind aber zunächst unbefangen, offen und neugierig. Das treibt man ihnen dann zwar irgendwann wieder aus, aber erst einmal sind sie das und das sollte man nutzen. Man muss ja die Frage nach der Zielsetzung im Blick haben. Was soll erreicht werden, wenn ich Kindern unterschiedliche Stile an die Hand gebe. Es geht doch darum, dass man Kinder für die visuelle Welt ein Stück kompetent macht. Und diese Welt, das, was sie an optischen Erfahrungen, Stilen und Medien bereithält, ist nun einmal so komplex, dass man sich nicht beschränken sollte auf bestimmte naive oder triviale Bildstile in Bilderbüchern. Das Bilderbuch ist ein Medium, das Kinder an diese künstlerischen und bildnerischen Phänomene heranführen kann.
Lesen in Deutschland: Wie unterscheidet sich das Lesen einer Bildsprache von dem Lesen eines literarischen Textes?
Jens Thiele: Texte und Bilder sind zwei unterschiedliche symbolische Systeme. Die Bilder sind präsentativ, das heißt, sie sind als Bilder unmittelbar sichtbar. Das Lesen von Wörtern ist eigentlich linear in der Abfolge und ist eher diskursiv und narrativ angelegt. Insofern sind es zwei unterschiedliche Bedeutungssysteme. Aber sie kommen im Bilderbuch zusammen, das ist ja das Interessante. Im besten Falle bildet sich zwischen Text und Bild die eigentliche Aussage heraus. Idealerweise erzählt mal das Bild zu der Geschichte ein Stück und dann der Text; zusammen ergeben sie eine enge Verflechtung. Wer nur liest, wird nicht kompetent für Bilder, und wer nur Bilder guckt, wird nicht kompetent für die Literatur. Insofern sind das eben zwei unterschiedliche Dinge.
Lesen in Deutschland: In welcher Beziehung sollten die Illustrationen eines Bilderbuches mit der schriftlich erzählten Geschichte stehen, um ein Bilderbuch als gelungen bezeichnen zu können?
Jens Thiele: Bei den bildnerischen Darstellungsweisen muss man natürlich fragen, wie der Stil eingebunden ist in eine Geschichte. Kinder gucken ja nicht nur auf Bilder und vergessen die Geschichte, sondern das Bilderbuch definiert sich darüber, dass es Bild und Text hat und darüber eine Geschichte erzählt. Wichtig wäre es, dass die Bilder, die entworfen werden, auch glaubhaft mit der Erzählung und der Psychologie der Erzählung verbunden sind. Wenn zum Beispiel jemand einen surrealistischen Bildstil zitiert, dann kann er damit bestimmte psychische Konflikte oder Probleme ausdrücken. Ich bin für diese Offenheit und für diese künstlerische Bandbreite und halte sie für einen großen Gewinn. Ich glaube, es sind die Erwachsenen, die bildnerische und erzählerische Freiheiten gerne einengen, weil sie das Gefühl haben, Kinder dürfen nicht so komplex sehen.
Lesen in Deutschland: Aber künstlerische Darstellungsweisen sind doch teilweise wahnsinnig komplex. „Funktioniert“ die kindliche Wahrnehmung nicht doch anders als die eines Erwachsenen?
Jens Thiele: Kinder sehen Kunstwerke völlig anders, weil sie nicht mit dem Wissen oder dem Hintergrund der Erwachsenen an Bilder herangehen, sondern die Bilder auf ihre Weise sozusagen unbewusst und intuitiv, emotional aus ihrer Situation hinaus deuten. Das sieht man ja auch daran, dass ein Kind in einem Bild, je nach Verfassung, mal das hineindeutet und dann beim nächsten Mal wieder etwas ganz anderes.
Lesen in Deutschland: Wie verlässlich sind die Altersempfehlungen auf Bilderbüchern und worauf muss beim Kauf für verschiedene Altersgruppen geachtet werden?
Jens Thiele: Jedes Kind hat unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Da muss man differenzieren. Ein dreijähriges Kind hat ganz andere Bildinteressen als ein fünfjähriges Kind. Aber das kann man nicht starr festlegen. Die Altersangaben von Verlagen halte ich für problematisch. Sie tendieren natürlich immer dazu, eine große Bandbreite anzugeben, damit viele Personen das Bilderbuch kaufen. Man sollte aber auch nicht nur die Bildebene herausgreifen, das Bilderbuch führt so viele Erfahrungsbereiche und Erlebensbereiche zusammen. Da ist der Text, da ist das Bild – da ist das, was zwischen den beiden geschieht. Wenn wir jetzt gerade über Dreijährige reden: Es gibt im Moritz-Verlag ein wunderschönes Bilderbuch „Es schneit“ von der japanischen Autorin und Illustratorin Komako Sakai. Hier wird unmittelbar an die kindliche Erfahrung angeknüpft. Bei einem Dreijährigen muss die Geschichte linear sein und weitgehend aus seiner Erlebniswelt kommen. Für ein fünfjähriges Kind wäre eine solche Geschichte fast zu einfach. Dieses Buch von Komako Sakai ist ein gutes Beispiel für das frühe Bilderbuchalter wie auch „Die kleine Raupe Nimmersatt“.
Lesen in Deutschland: Kann uns die Wahrnehmungspsychologie oder die Entwicklungspsychologie nicht verbindlichere Anhaltspunkte geben zum Beispiel, welcher Bildstil von einem dreijährigen Kind wahrnehmbar ist und welcher nicht?
Jens Thiele: Das Problem ist ja, das wir über solche Dinge sprechen, ohne dass wir ganz verlässliche empirische Forschung dazu haben. Man hat zum Beispiel in der Entwicklungspsychologie herausgefunden, dass zweieinhalbjährige Kinder zunächst keine Unterscheidungen vornehmen, was Bildstile angeht oder Bildkategorien. Sie schauen alles gleichermaßen neugierig an. Wenn das so ist, könnte man durchaus sagen, dass Bilderbücher für das frühe Bilderbuchalter vielfältiger und offener sein könnten. Man sollte also schon genauer hinschauen, was die Wahrnehmungsforschung an Ergebnissen bereithält.
Lesen in Deutschland: Hier tappt man also noch mehr oder weniger im Dunklen. Sehen auch Sie einen Forschungsbedarf?
Jens Thiele: Ja, einen hohen Bedarf, den größten Bedarf in der Bilderbuchforschung überhaupt. Es ist allerdings auch nicht einfach, Kinder in diesem Alter verlässlich zu testen. Man kann es nicht verbal machen, man kann es nur durch veranschaulichende Methoden machen. So kann man einen Dreijährigen ja schlecht in ein Interview verstricken. Da gibt es einfach methodische Probleme.
Lesen in Deutschland: Ein bisschen ist an dem Geschimpfe über Erwachsenenbilderbücher, die auf dem Markt sind, also dran?
Jens Thiele: Bei der Öffnung des Bilderbuchmarktes verliert man möglicherweise das Kind aus dem Blick. Diese Sorge ist schon gerechtfertigt. Um ein kritisches Urteil zu bilden, muss man die Frage jedoch an jedem Bilderbuch neu bestimmen und diskutieren und keine pauschalen Urteile fällen.
Lesen in Deutschland: Was möchten Sie Verlagen, Erzieherinnen, Pädagogen, Grundschullehrerinnen aber auch Bibliothekaren und Buchhändlern zum Thema Bilderbuch an Herz legen?
Jens Thiele: Derzeit sinkt bei vielen Kinderbuchverlagen die Tendenz, experimentelle oder ungewöhnliche Bilderbücher zu fördern. Wenn es mir zukäme, jemanden etwas ans Herz zu legen, dann würde ich sagen, dass dies für die Bildung der Kinder der falsche Weg ist. Ökonomisch möchte ich jetzt nicht argumentieren. Aber die Adressaten, um die es geht, haben eigentlich einen Anspruch darauf, dass man ihnen nicht nur Mainstream-Angebote macht und nicht immer nur die vertrauten ästhetischen Muster und Geschichten wiederholt.
Jens Thiele, geboren 1944 in Potsdam, studierte Freie Graphik und Kunstpädagogik an der Kunstakademie Braunschweig und Kunstwissenschaft in Göttingen, wo er über "Das Kunstwerk im Film" promovierte. Er arbeitete als Kunsterzieher in Göttingen und als wissenschaftlicher Assistent an der Bergischen Universität in Wuppertal, bevor er Professor für Visuelle Medien an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg wurde. Hier ist er Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschichte, Theorie und Ästhetik visueller Medien, insbesondere des Bilderbuchs und des Spielfilms. Bisher sind zwei Bilderbücher von ihm im Peter Hammer-Verlag erschienen: „Jo im roten Kleid“ und „Der Junge, der die Zeit anhielt“.
Das Interview führte Katja Haug
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