Bericht

Zuhause in der Bibliothek

12.07.2006

Das „Lesenetz Baden-Württemberg“ entwickelt neue Kooperationsformen.


Kinder und Studentinnen in der Bibliothek
Kinder und Studentinnen in der Bibliothek
Wenn Sie in der Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd Studenten und Studentinnen im vertieften Gespräch über Literatur mit Grund- und Sekundarschülerinnen und -schülern sehen, könnte es gut sein, dass Sie Teilnehmer des Projektes „Entwicklung stabiler Lesegewohnheiten“ vor sich sehen. Der Name des Projektes, das die Landesstiftung Baden-Württemberg im Rahmen des „Lesenetzes Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen hat, ist zugleich Programm. Sein Ziel: Kinder zu langfristigen Lesern zu machen. Dabei sind die so genannten „Lesegespräche“ zwischen Studenten und Schülern nur ein kleiner Teil der Methoden, mit denen die Initiatoren dieses Ziel erreichen wollen …  Manfred Wespel, Professor für Sprach- und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, betreute das Projekt wissenschaftlich und schrieb uns folgenden Bericht:   

Vernetzt: Bibliothek, Hochschule und Schulen

Das „Lesenetz Baden-Württemberg“ der Landesstiftung Baden-Württemberg eröffnete vielen Bibliotheken des Landes die Möglichkeit, neue Formen der Kooperation mit anderen Institutionen zu erproben. Die Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd nutzte dieses Projekt, um in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule am Ort neue Formen der Bibliotheksführung für Schulklassen zu entwickeln. Durch individuelle Patenschaften zwischen Lehramtsstudierenden und Schülerinnen und Schülern sollen mehr Nachhaltigkeit erzielt und eine stärkere Bindung an die Bibliothek erreicht werden, um die Schülerinnen und Schüler zu „habituellen“ Nutzern zu machen. Zugleich wird den Lehramtsstudierenden als zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern die Rolle öffentlicher Bibliotheken für die Lesesozialisation stärker bewusst gemacht.

Information, Motivation, Kommunikation
An dem Projekt „Entwicklung stabiler Lesegewohnheiten“ waren insgesamt über 200 Schülerinnen und Schüler der Klassen 2 bis 5 und über 50 Studierende des Faches Deutsch der Hochschule beteiligt. Im Mittelpunkt standen zum einen eine Führung in der Bibliothek und zum anderen mehrere Treffen der Patenkinder mit ihren Paten in der Bibliothek.

Bei der Bibliotheksführung wurde neben einer orientierenden Einführung durch eine Bibliothekarin in die Räumlichkeit, die Standorte, die Ausleihe Wert auf eine unmittelbare handlungsbezogene Umsetzung gelegt, wie sie heute vielfach üblich ist: In den Klassen 2 und 3 mit einem Recherchespiel  – ein Buch nach Titelangaben suchen, Informationen entnehmen, Autor, Verlag kennen, Figuren benennen u. a.  –, bei den Klassenstufen 4 und 5 mit einer Büchereirallye unter Einbeziehung des elektronischen Katalogs – Titel, Schlagwort, Signatur, Internet u. a..

Kurz nach der Bibliotheksführung besuchten die Studierenden aus dem Seminar „Schule und Bibliothek“ die einzelnen Klassen und tauschten dort mit den Schülerinnen und Schülern ihre „Lesersteckbriefe“ aus, knüpften erste Kontakte und klärten Organisatorisches. Die Studierenden trafen sich in der Regel drei Mal mit ihren Patenkindern in der Bibliothek, suchten mit ihnen Bücher aus, führten Lesegespräche über ihre (Lese-) Interessen und -gewohnheiten und über  die gelesenen Bücher. Teilweise lasen auch die Paten ihren Patenkindern vor und umgekehrt. Natürlich wäre eine längere Begleitung wünschenswert, doch war dies bei zwei Durchgängen in einem Semester kaum realisierbar. Dafür wurde in einzelnen Klassen die Bibliothek gezielt in den Unterricht einbezogen und die Schülerinnen und Schüler erhielten Aufgaben, die sie zu weiteren Bibliotheksbesuchen veranlassten.

Was hat die Vernetzung bewirkt?
Lesen ist zuerst einmal ein individueller Vorgang – das wird in der Schule oft zu wenig beachtet. Das beginnt bei der individuellen Auswahl (Interessen, Schwierigkeitsgrad, Umfang) und setzt sich im Leseprozess fort (Ruhe, eigenes Tempo, stilles Lesen, bevorzugte Umgebung). Dafür ist die Bibliothek, die Ausleihe von Büchern und Medien ideal. Die Schülerinnen und Schüler können für sich entscheiden, was sie lesen wollen, und sie erhalten Anregung und Hilfe oder können sich über Gelesenes austauschen. Kommunikation über Gelesenes ist für die Leseentwicklung unerlässlich und fruchtbar, sofern sie nicht das Verstehen kanalisiert und sanktioniert, wie es in der Schule oft der Fall ist. Das individuelle Gespräch mit einem Lesepaten ist hier offener, ist am Leser und seiner Verarbeitung interessiert. Im Einzelfall kann der Lesepate auch (nur) Katalysator für Gespräche zwischen den Kindern sein.

Sicher ist ein gesteigertes Interesse an der Bibliothek, die Steigerung der Besuchsfrequenz und der Ausleihzahlen während der Projektphase untypisch hoch und flacht danach wieder ab. Wenn aber andere Institutionen wie Familie und Schule die Verbindung weiter aktiv unterstützen, kann eine anhaltende Nutzung leichter erreicht werden.

Lehramtsstudierende nehmen Kinder und Jugendliche als Schülerinnen und Schüler wahr, betrachten Literatur und Lesen zu sehr aus schulischer Perspektive und streben nach einer zielorientierten „Behandlung“ eines Textes. Durch die beschriebenen Patenschaften konnte sich die Perspektive deutlich verändern. Die Studierenden sehen den individuellen Leser, die großen interindividuellen Unterschiede (etwa bei den Berichten im Seminar über die einzelnen Kinder), die Probleme der Über- und Unterforderung. Eine Reihe von Kindern musste nicht zum Lesen motiviert werden; sie waren Vielleser, die ganz gezielt anspruchsvolle „Spezialitäten“ suchten.

Insgesamt kann so der Blick für die vielfältigen Bedingungen und Möglichkeiten der Lesesozialisation geschärft werden, vor allem auch die Relevanz von Familie, Kindergarten, Peer-Groups, Buchhandlung und Bibliothek. Es kann sichtbar werden, wie wichtig die Verknüpfung des schulischen Lese- und Literaturunterrichts mit diesen Instanzen ist. Nicht zuletzt kann der Unterricht methodisch auf diese oft wichtigeren Leseerfahrungen der Schülerinnen und Schüler reagieren: Etwa durch eine Vielfalt im Leseangebot in der Klasse, durch freie Lesezeiten, durch (unzensierte) Buchvorstellungen und -empfehlungen, durch Vorlesen und durch Aktionen, die die Lust am Lesen erhalten und fördern.
Autor: Manfred Wespel


Manfred Wespel
Manfred Wespel ist Professor für Sprach- und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd (seit 1975) und Verfasser und Herausgeber von Sprach- und Lesebüchern für die Grundschule. Zudem schrieb er verschiedene Artikel zu  Leseförderung in der GRUNDSCHULE und als Monographie: Wie wird mein Kind zum Leser? (München 2003)


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