Bericht

Von der Lausbubengeschichte zur Hetzschrift

29.09.2005

TEIL II: Kinder- und Jugendliteratur von der ausklingenden Biedermeier-Epoche bis zum „Realismus“ des Nationalsozialismus


Mit dem zweiten Teil des historischen Abrisses zur Kinder- und Jugendliteratur wird der vermeintlich pädagogische und ideologisch-

Max und Moritz fischen nach gebratenen Hühnchen
Max und Moritz fischen nach gebratenen Hühnchen
gesellschaftliche Einfluss auf die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur sehr deutlich. So stand Literatur immer im Dialog mit gesellschaftlichen Veränderungen, dokumentierte sie und wies über sie hinaus. Waren in Zeiten der Weimarer Republik erste literarische Revolutionen innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur zu beobachten, wurden sie spätestens mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus im Keime erstickt. Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs stagnierte die Entwicklung und literarisch kostbare Werke für Kinder und Jugendliche waren nicht mehr auf dem Buchmarkt zu finden. Doch lesen Sie selbst, welche Veränderungen die Kinder- und Jugendliteratur in dieser Zeitspanne durchgemacht hat.



Ausklingende Biedermeier-Epoche: Anregungen aus dem Ausland, Einzug der Bildgeschichte und Karl Mays „Supermänner“

Wie schon in im ersten Teil des geschichtlichen Abrisses der Kinder- und Jugendliteratur erwähnt, war die Zeit bis zur späten Biedermeier-Epoche nicht nur durch quantitativen Zuwachs, sondern auch, so der Literaturwissenschaftler Winfred Kaminski, durch eine vermehrte Trivialisierung der Literatur für Kinder und Jugendliche. Doch die Landschaft der deutschen Kinder- und Jugendliteratur erfuhr wesentliche Anregungen durch die Übersetzung von Titeln wie „Oliver Twist“ (1838) von Charles Dickens, „Onkel Toms Hütte“ (1852) von Harriet Beecher Stowe, Mark Twains „Tom Sawyer“ (1876) und auch Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ (1894). Auch das Werk von Jules Verne „Les Enfants du capitaine Grant“ (1867/68) fand viele Leserinnen und Leser unter den Jugendlichen. Zwar waren diese Romane eigentlich gar nicht für Jugendliche geschrieben, doch trugen sie einer spezifisch kindlichen und jugendlichen Erlebniswelt Rechnung. Das gleiche gilt für die auch heute noch beliebten Titel „Alice im Wunderland“ (1865), „Pinocchio“ (1883) und „Peter Pan“ (1904), die erstmals auf dem deutschen Büchermarkt erschienen.

Mit Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ (1847) und Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ (1865) hielt die Bildgeschichte Einzug in die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Sie diente auch den in den USA entstandenen Comics als Vorbild  („The Katzenjammer Kids“, „Little Nemo in Slumberland“). Im späten 19. Jahrhundert wurden dann Abenteuer- und Geschichtsromane, wie jene von Karl May, populär. Den Erfolg seiner Geschichten erklären sich Fachleute neben seinem großen Erzähltalent damit, dass Karl Mays mythologisierte Helden dem Männlichkeitsideal der damaligen Zeit entsprachen: Seine Protagonisten zeichneten sich durch Tatkraft, Führungswillen, Mut und Kühnheit aus. Die Lektüre ermöglichte damit männlichen Jugendlichen ein Probehandeln in der Fantasie, das ein Hineinwachsen in die geschlechtsspezifische gesellschaftliche Rolle beförderte. Als Kontrast zu diesen Abenteuerromanen für die männliche Leserschaft herrschten, wie schon in der Biedermeierzeit, für Mädchen eher sentimentale Erzählungen wie „Heidi“ von Johanna Spypri vor.

Industrialisierung: Bildungsreform und Literatur als Massenware
Die Erkenntnis, dass in einer Industriegesellschaft der ökonomische Fortschritt längerfristig nur zu sichern ist, wenn die gesamte Bevölkerung die grundlegenden Kulturtechniken beherrscht, führte nach 1870 zur längst überfälligen Revision der „rückschrittlichen Bildungspolitik“ im deutschen Elementarschulwesen, dokumentiert Isa Schikorsky in ihrem Buch „Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur“. So kam mit dem Ausbau der Volksschulen sowie der endgültigen Durchsetzung der Schulpflicht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Prozess der Alphabetisierung zum Abschluss: Nun sollten alle Kinder Lesen und Schreiben lernen. Das hatte auch zur Folge, dass die Literatur für Heranwachsende ein breites Publikum jenseits der bildungsbürgerlichen Elite ansprechen konnte.

Zudem erleichterten die verbesserten Satz- und Drucktechniken den Aufschwung des Buchmarktes im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie ermöglichten es, auf Lesebedürfnisse und finanzielle Umstände der Zielgruppen zugeschnittene Angebote zu machen, von billigen Heftchen bis hin zu prachtvollen Bänden. So schnellten die Produktionszahlen in die Höhe. Die hastig geschriebenen und auf kommerziellen Erfolg abzielenden Unterhaltungsromane erreichten zwar ein breites Publikum, forderten aber auch die Kritik jener heraus, „die sich eine Erziehung zur literarischen Genussfähigkeit von Heranwachsenden aus den unteren Bevölkerungsschichten zur Aufgabe gesetzt haben“, so Isa Schikorsky.

Neue Sachlichkeit: Die Jugendschriftenbewegung und „das Elend unserer Kinder- und Jugendliteratur“
Der Volkschullehrer Heinrich Wolgast veröffentlichte 1896 die Streitschrift „Das Elend unserer Jungendliteratur“. Er war einer von jenen, denen es vor allem darum ging, etwas zur literarischen Geschmacksbildung der unteren Sozialschichten beizutragen. Wolgast war es auch, der von dem funktional erzieherischen Aspekt wegführte, das Interesse auf literarische Ästhetik lenkte und, so Kaminski, gegen „Indianerbücher“ polemisierte. Wolgast sprach sich gegen eine spezifische Kinder- und Jugendliteratur aus, da er in ihr eine allein aus wirtschaftlichen Erwägungen produzierte Massenware ohne jeden poetischen Wert sah.

Bücher, die religiöse, moralische oder politische Überzeugungen vermittelten, bezeichnete er als „Tendenzschriften“ und lehnte sie ebenso wie „Unterhaltungsschriften“ ab. Der Literaturwissenschaftler Winfred Kaminski hält fest: „Diese Haltung trug ihm von konservativ-nationalistischer Seite den Vorwurf ein, vaterlandsfeindlich und kirchenfeindlich, obendrein `Sozialist´ zu sein.“ Wolgasts Tun war eingebettet in die Jugendschriftenbewegung und die Kunsterziehungsbewegung. Diese Strömungen ordneten sich der Idee einer Erziehung „vom Kinde aus“ unter, wie sie die Schwedin Ellen Key in ihrem Werk „Das Jahrhundert des Kindes“ (1902) beschrieb. Künstlerisch verwirklicht wurden diese Konzepte auch von Lehrern und Kunsterziehern mit den Werken Heinrich Vogelers, Ernst Kreidolfs und der Lyrik Laura und Richard Demels.

Weimarer Republik: Geschichten von klassenbewussten Proletariern, Reklamekönigen und Großstadthelden     
Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts spielten realistische Geschichten die Hauptrolle in der Kinder- und Jugendliteratur. Die Kulisse, vor denen sich diese Geschichten abspielten, war bevorzugt die ländliche Idylle, waren Dörfer und Kleinstädte. Doch nun sollte auch die Großstadt als kindlicher Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum begriffen werden. Als erster tat dies der Reformpädagoge und Lehrer Heinrich Scharrelmann (1871-1940) mit seinen vier „Berni“-Bänden (1908-1922), in denen ein Junge seine Heimatstadt Bremen erkundet. Scharrelmann beschreibt in diesen Geschichten alltägliche Begebenheiten aus der Welt der Handwerker und Kleinbürger, verwendet eine einfache Sprache und schreibt konsequent aus der Sicht eines Heranwachsenden, der sich in Augenhöhe mit dem Leser befindet.

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurde Berlin nicht nur zum wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Mittelpunkt Deutschlands, sondern auch „zum Schauplatz von Kinderbüchern“, hält Isa Schikorsky die Geschehnisse dieser Zeit fest. Der Autor Carl Dantz (1884-1967) machte mit der Geschichte „Peter Stoll“ (1925) den Anfang. Er erzählt die Entwicklung eines Arbeiterjungen hin zum klassenbewussten Proletarier. „Eine kleine Revolution löste Wolf Durian (1892-1969) mit `Kai aus der Kiste´ (1926) aus“, schreibt die Autorin Schikorsky. Die Stadt muss sich in diesen Romanen nicht mehr gegen eine vorgeblich heile Bergwelt oder ein idyllisches Kleinstadtleben beweisen. Durians „Kai aus der Kiste“ handelt von der Entwicklung eines „dreckigen Straßenkönigs“ zum „Reklamekönig“ und schildert einen sozialen Aufstieg, der mit der damaligen Wirtschaftskrise in Deutschland kontrastierte. In seiner Geschichte wird die Signatur  der Neuen Sachlichkeit erkennbar: „In der schnörkellosen Sprache, der konzentrierten Handlung, der neutralen Darstellung aus dem Blickwinkel einer Filmkamera, dem rasanten Erzähltempo, das mit der Dynamik des Großstadtlebens korrespondiert, und dem aktuellen, die Menschen ungeheuer faszinierenden Thema Werbung“, so Schikorsky. Die Geschichte „Kai aus der Kiste“ kam bei Jugendlichen sehr gut an, wurde aber von den einflussreichen Jugendschriftenausschüssen als „keine wertvolle Lektüre“ angesehen.

Die Radikalität, die dieser Geschichte anheftet, könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass dem übermütigen Kai ein weiterer kleiner Held folgte, der ihn sogar noch überflügelte: Erich Kästners Buch „Emil und die Dedektive“ (1929) wurde auch international zum erfolgreichsten deutschen Kinderbuch des 20. Jahrhunderts. Als Kästner diesen Kinderroman schrieb, hatte er sich bereits einen Namen als kritischer „Weltbühne-Journalist“ und Verfasser frivoler und bissiger Gedichte gemacht. Der Literaturwissenschaftler Winfred Kaminski spricht von Kästners Roman als dem „Ereignis der Kinder- und Jugendliteratur in der Weimarer Republik“. Kästner habe somit die „Neue Sachlichkeit“ als einer der wichtigsten künstlerischen und literarischen Strömungen der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts für die Kinder- und Jugendliteratur fruchtbar gemacht. Kästners Kinder aus der Stadt sprechen Gassenjargon und haben wenig Respekt vor den Erwachsenen. All das war neu. In diesen Büchern war die Großstadt zum Ort kindlicher Sozialisation, aber auch der Bewährung geworden. Die neuen Helden der realistischen Kinder- und Jugendliteratur waren solidarisch, selbstbewusst, klug und vernünftig. Kästner verband mit diesen Werken die Hoffnung, die nachwachsende Generation werde eine friedlichere und menschlichere Gesellschaft schaffen.               

Heroischer Realismus: Literatur verkommt zum Manipulationsmittel
Die Phase der lebendigen und innovativen Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik endete mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 schlagartig. Die Nationalsozialisten richteten die Literatur für Heranwachsende parteikonform aus. Durch Erlasse des Reichsministers für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung wurde das gesamte Jugendschriftentum neu geordnet. Ab Juli 1933 organisierte die so genannte „Reichsstelle für das Jugendschriftentum“ die Bestrebungen um eine ideologisch einheitliche Linie der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Die Werke von kommunistisch und sozialdemokratisch gesonnenen Autoren wurden verboten, ebenso jene Bücher von Autoren, die die Neue Sachlichkeit vertraten, wie Erich Kästner oder Irmgard Keun. Viele Künstler mussten aus Deutschland emigrieren oder wurden mit Schreibverboten belegt. In der Emigration entstand eine zwar zahlenmäßig geringe Menge an Kinderbüchern, die jedoch einige bedeutende Titel aufweist. Hierbei sind besonders Veröffentlichungen von Lisa Tetzner und Kurt Held zu nennen, die in der Schweiz im Exil lebten.
 „Schwarze Listen und Empfehlungskataloge dienten der Literaturlenkung und der Orientierung auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt im nationalsozialistischen Sinne“, dokumentiert Isa Schikorsky im Buch „Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur“. Der Wolgastschen Forderung nach Tendenzfreiheit wurde nun die uneingeschränkte Tendenz entgegengesetzt. Gegenwartsbetonten Werken, die nicht durch sachliche Aufklärung, sondern durch emotionale Beeinflussung überzeugten, kam nun eine große „erzieherische“ Bedeutung zu.

Jetzt waren Helden gefragt, die sich bedingungslos der „nationalsozialistischen Bewegung“ opferten, sie sollten den jungen Leserinnen und Lesern vermitteln, dass der Staat nur durch absoluten Gehorsam und Unterordnung funktioniere. Doch es fehlte an Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die in der Lage waren, diese gewünschten Inhalte angemessen zu vermitteln.  Einem, dem dies „gelang“, war der Autor Karl Alois Schlenzinger (1886-1962), er erfüllte die Vorgaben mit dem Buch „Der Hitlerjunge Quex“. Die jungen Mädchen sollten mit Geschichten wie „Ulla, ein Hitlermädchen“ (1933) von Helga Knöpke-Jost bekehrt werden. Sie sollten eine Identifikationsfigur geboten bekommen, die Tatkraft und Idealismus in sich vereint. Im "Dritten Reich" wurde die große Bedeutung der erzählenden Literatur zur „nationalen Erziehung der Jugend“ erkannt und genutzt.

Es entstand eine Fülle von Werken, die die „Überlegenheit der germanischen Rasse" beziehungsweise des „deutschen Volkes“ über alle anderen Nationen demonstrieren sollten. Verbreitet waren vor allem Stoffe aus der germanischen Geschichte, mittelalterliche Themen und Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg. Eigenschaften wie „Opferbereitschaft“ und „Kampfeswille“ wurden in zahlreichen Kriegs- und Schlachtenszenen beschrieben, die der Kriegserziehung der Jugend dienen sollten. Spätestens mit dem Beginn des zweiten Weltkriegs sollte die gesamte Kinder- und Jugendliteratur für Heranwachsende der „wehrgeistigen Erziehung“ dienen. Schikorsky stellt fest: „Ein Werk von wie auch immer geartetem literarischen Rang hat die genuin nationalsozialistische Kinder- und Jugendliteratur nicht hervorgebracht.“ Die Literatur für Kinder- und Jugendliche erholte sich nach der Zäsur des „Dritten Reiches“ in den folgenden Jahrzehnten nicht nur, sondern machte sogar damals noch nicht zu ahnende Umwälzungen mit. Mehr hierzu erfahren Sie kommende Woche in Teil III des geschichtlichen Abrisses …   

Vertiefende Literatur zum Thema:
• Titel: „Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur
 – Literarische Phantasie und gesellschaftliche Wirklichkeit“
Autor: Winfred Kaminski
Verlag: Juventa 
• Titel: “Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur“
Autorin: Isa Schikorsky
Verlag: Dumont 
• Titel: „Geschichte der deutschen Kinder- Jugendliteratur“ 2. Auflage
Herausgeber: Reiner Wild  
Verlag:  J.B. Metzler


 


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