interview

„Das Gestalten von Sprachförderung ist eine große Herausforderung“

12.09.2022

Einblicke in die Forschung zur alltagsintegrierten Sprachförderung in der Kita




Dr. Christine Beckerle
Dr. Christine Beckerle
© Roland Schneider; Bilderraum
Wie kann eine alltagsintegrierte Sprachförderung in der Kita gelingen? Welche Rolle spielen pädagogische Fachkräfte, bei der Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung? Diesen Fragen geht Dr. Christine Beckerle zusammen mit ihren Kolleg*innen an der Leibniz Universität Hannover im Institut für Sonderpädagogik nach. Ihre Forschung findet auch direkt in den Kindertagesstätten statt. Dort nutzt die Wissenschaftlerin Videokameras und Aufnahmegeräte, um die sprachlichen Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern zu analysieren und um herauszufinden, welche sprachförderlichen Strategien sich besonders für den Alltag der Kitas eignen. Im Interview erzählt sie, wie Forschung in der Kita funktioniert und welche sprachlichen Methoden sich bewähren.

Redaktion: Frau Beckerle, was versteht man unter einer alltagsintegrierten Sprachförderung und welche positiven Effekte hat sie für die kindliche Entwicklung?

C. Beckerle: Alltagsintegrierte Sprachförderung ist inzwischen erfreulicherweise fester Bestandteil der frühkindlichen Bildung in Deutschland. Wie der Name schon sagt, findet diese kontinuierlich im Kita-Alltag statt und unterscheidet sich somit von additiven Ansätzen, also separaten Angeboten für ausgewählte Kindergruppen. Der Vorteil ist, dass alle Kinder in allen Situationen sprachlich angeregt und gefördert werden können. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass Fachkräfte Interaktionen mit Kindern sprachförderlich gestalten.
Da sich in der (inter-)nationalen Literatur eine große Vielfalt an Methoden alltagsintegrierter Sprachförderung wiederfindet, haben meine Kollegin Prof. Dr. Katja Mackowiak und ich versucht, diese Methoden und Strategien etwas zusammenzufassen und zu strukturieren. Zum einen gibt es sprachförderliche Prinzipien, die sich kontinuierlich in der Interaktionsgestaltung von Fachkräften zeigen, wozu u.a. ein grundlegendes Interesse an der Kommunikation mit Kindern, ein positives Sprachvorbild und ein Beachten der Redeanteile zählen. Zum anderen gibt es punktuell einsetzbare sprachförderliche Strategien, mit denen Fachkräfte gezielt sprachliche Äußerungen von Kindern korrigieren und erweitern, Kinder auf Sprachstrukturen aufmerksam machen und zum Sprechen anregen. Der Einsatz dieser sprachlichen Strategien kann um nonverbale, fremdsprachliche und metasprachliche Mittel ergänzt werden. Es liegt eine Reihe (inter-)nationaler Studien vor, die die Wirksamkeit alltagsintegrierter Sprachförderung belegt. Interessant ist, dass prinzipiell alle Kinder von dieser Sprachförderung profitieren, die Effekte aber besonders überzeugend bei Kindern mit geringen Sprachkompetenzen sind, z.B. bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache.

Redaktion: Gerade bei kleinen Kindern oder in inklusiven Einrichtungen ist es ja ganz unterschiedlich, wie sich die Sprachfähigkeit entwickelt, manche Kinder sprechen vielleicht schon sehr früh, andere eher später oder nur wenig, noch dazu sprechen viele Kinder ja auch mehrere Sprachen. Wie gehen Sie in Ihrer Forschung mit diesen unterschiedlichen Entwicklungen und der Mehrsprachigkeit um?

C. Beckerle: Hervorheben möchte ich, dass es eine große Herausforderung für die Praxis ist, mit dieser sprachlichen Diversität in Kitas tagtäglich umzugehen. In der Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang der Adaptivität, also der Passung, eine große Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist entscheidend, dass Fachkräfte die sprachlichen und weitere Lernvoraussetzungen jedes Kindes kennen und darauf abgestimmt individuell passende sprachförderliche Methoden in Interaktionen einsetzen. Durch die adaptive Gestaltung von Sprachförderung können alle Kinder individuell gefördert werden, jüngere und ältere, ein- und mehrsprachige, Kinder mit und ohne Entwicklungsbeeinträchtigung.
Daraus ergibt sich für die Forschung, dass zum einen das Wechselspiel von Sprachdiagnostik und -förderung und zum anderen neben Fachkräften und deren Kompetenzen auch Kinder fokussiert werden sollten. Die Sprachförderung von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und Migrations-/ Fluchthintergrund gilt zudem als Zukunftsthema, weil dazu noch zu wenige empirisch abgesicherte Erkenntnisse vorliegen und diese Kindergruppe in Deutschland größer und auch diverser wird.

Redaktion: Die letzte Vorlesestudie der Stiftung Lesen hat z.B. gezeigt, dass pädagogischen Fachkräften eine Schlüsselfunktion in der Leseförderung zukommt und manche Kinder nur in der Kita vorgelesen bekommen. Wie wirkt sich diese Schlüsselfunktion denn über das Vorlesen hinaus auf die Sprachförderung aus?

C. Beckerle: Der Begriff „Schlüsselfunktion“ sagt mir sehr zu, und zwar in Bezug auf die alltagsintegrierte Sprachförderung insgesamt. Wie eben hoffentlich deutlich wurde, tragen Fachkräfte eine große Verantwortung für die Gestaltung bzw. sogar für das Gelingen der Sprachförderung. Entsprechend benötigen sie zahlreiche Kompetenzen in der Sprachdiagnostik und -förderung. Wir sollten uns also auch bewusst machen, dass wir viel von Fachkräften verlangen.
Bilderbuchbetrachtungen bzw. dialogisches Lesen werden im Kontext alltagsintegrierter Sprachförderung übrigens als „Schlüsselsituationen“ bezeichnet, da es hier Fachkräften meist leichter bzw. besser gelingt, Interaktionen mit Kindern sprachförderlich zu gestalten. In der Aus- und Weiterbildung werden diese Situationen daher oft genutzt, um sprachförderliche Methoden zu erproben und weiterzuentwickeln.

Redaktion: Woran forschen Sie gerade konkret und welche Methoden kommen dabei zum Einsatz, um zu untersuchen, wie Sprachförderung in der Praxis funktioniert?

C. Beckerle: Einen Schwerpunkt bilden bei uns Videoanalysen. Wir filmen Fachkraft-Kind-Interaktionen im Kita-Alltag und werten aus, wie verschiedene sprachförderliche Prinzipien und Strategien zum Tragen kommen. Verstärkt schauen wir auch danach, welche Sprachkompetenzen Kinder mitbringen, wozu wir Sprachtests einsetzen bzw. die Videos als Sprachproben nutzen, um prüfen zu können, ob das Sprachförderhandeln von Fachkräften zu den kindlichen Kompetenzen passt, also adaptiv ist. Erste Ergebnisse zeigen, dass noch viel Entwicklungspotenzial bei Fachkräften besteht.
Aktuell läuft bei uns das Projekt LeiK-adaptiv (Lernunterstützung in inklusiven Kitas adaptiv gestalten), welches vom BMBF finanziell gefördert wird und in dem Fachkräfte aus zwei niedersächsischen Kitas in der adaptiven Lernunterstützung von Kindern weiter professionalisiert werden. Besonders daran ist, dass neben der alltagsintegrierten sprachlichen auch die kognitive und naturwissenschaftliche Förderung im Zentrum steht und das Projekt in enger Kooperation mit der Praxis durchgeführt wird. Im Oktober startet unser Projekt ADIL (Adaptives dialogisches Lesen an unterschiedlichen Lernorten), auch vom BMBF finanziert. Hier werden Sonderpädagogik-Studierende der Leibniz Universität Hannover im adaptiven dialogischen Lesen mit Kindern geschult, wobei es neben der sprachlichen auch um die kognitive Anregung und emotionale Abstimmung geht und verschiedene Kinderbücher eingesetzt werden. In beiden Projekten ist der langfristige Transfer einer adaptiven Sprachförderung in die Kitas ein wesentliches Ziel.

Redaktion: Welche konkreten Maßnahmen müssten ergriffen werden, um eine alltagsintegrierte Sprachförderung effektiv umzusetzen?

C. Beckerle: Wie schon viele Jahre gefordert wird, ist vor allem die Professionalisierung des frühpädagogischen Personals im Bereich Sprachförderung relevant. Es ist positiv zu bewerten, dass hier auch viele bildungspolitische und wissenschaftliche Initiativen ansetzen und Fachkräfte so offen und engagiert dabei sind. Um aber nachhaltige Veränderungen und eine wirkliche Implementation einer adaptiven Sprachförderung in den Kita-Alltag zu schaffen, braucht es noch mehr Anstrengung von allen Seiten. Von besonderer Bedeutung könnte eine wissenschaftlich begleitete Prozessbegleitung in Kitas sein, also eine langfristige Zusammenarbeit in Form eines kontinuierlichen Coachings, in dem die Umsetzung der Sprachförderung beobachtet, analysiert und reflektiert wird und Fachkräfte Anregungen zur Weiterentwicklung bekommen. Dabei sollte bestenfalls das ganze Kita-Team involviert werden.

Redaktion: Haben Sie Tipps für pädagogische Fachkräfte, die leicht in den Kita-Alltag zu integrieren sind?

C. Beckerle: Jeder Fachkraft sind viele sprachförderliche Prinzipien und Strategien vertraut (und sie lassen sich auch in Praxisbüchern nachlesen). Mein Impuls für jede Fachkraft wäre, sich eine dieser Methoden auszuwählen, z.B. in vollständigen Sätzen zu sprechen, Kinder mehr zu Wort kommen zu lassen, ihren Wortschatz zu erweitern oder ihnen anregende Fragen zu stellen. Diese Methode setzt man dann gezielt ein, eventuell in spezifischen Situationen und bei spezifischen Kindern. Am Ende des Tages überlegt man, was einem dabei gut gelungen ist und was man noch optimieren könnte. Einen Mehrwert hätte es, wenn man mit Kolleg*innen vereinbaren könnte, sich mehrere Male am Tag für ein paar Minuten lang gegenseitig zu beobachten und dazu anschließend Rückmeldung zu geben. Alternativ könnte man eine Interaktion mit einem Kind per Aufnahmegerät aufzeichnen und anschließend reflektieren (z.B. „Welche sprachförderlichen Methoden habe ich eingesetzt? Was habe ich gut gemacht? Was möchte ich verbessern? Welche Kompetenzen hat das Kind? Auf was sollte ich in Interaktionen mit dem Kind noch mehr achten?“). Dadurch könnte eine Weiterentwicklung des Sprachförderhandelns angestoßen werden. Viele Fachkräfte haben uns berichtet, dass dieses Vorgehen effektiv ist und Freude macht.


Dr. Christine Beckerle ist seit 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Sonderpädagogische Psychologie am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover tätig. Nach ihrem Doppelstudium des Grundschullehramts und der Fächern Pädagogik und Anglistik auf Magister promovierte sie 2016 im Fach Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema „Alltagsintegrierte Sprachförderung in Kita und Grundschule - Evaluation des 'Fellbach-Konzepts'“. Christine Beckerle arbeitete mehrere Jahre lang als Erzieherin in einer integrativen Kindertagesstätte und in weiteren Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche. Sie bietet zudem regelmäßig Workshops, Coachings und Fortbildungen für Fach- und Lehrkräfte zur alltagsintegrierten Sprachförderung an.


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