
„Kinder brauchen Bücher, die vielfältige Familiensituationen abbilden und wertschätzen.“ |
25.05.2022 |
Buchempfehlungen der Fachstelle „Kinderwelten“
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Gabriele Koné © CarstenThesing |
„Alle Kinder brauchen Bücher, die sie und ihre vielfältigen Familienkulturen abbilden und so wertschätzen.“, sind sich die Mitarbeitenden der Fachstelle einig. Gabriele Koné arbeitet seit 2017 für die Fachstelle und erstellt gemeinsam mit Mitarbeitenden die Empfehlungslisten. Im Interview berichtet sie über die Arbeit rund um die Auswahl der Kinderbücher und das Angebot der Fachstelle.
Redaktion: An wen richtet sich die Arbeit der Fachstelle „Kinderwelten“?
G. Koné: Kinderbücher und Medien prägen die Lebenswelten und Wertvorstellungen schon ab dem Kleinkindalter mit. Die Fachstelle „Kinderwelten“ arbeitet deshalb in erster Linie mit frühpädagogischen Fachkräften aus Krippen und Kitas zusammen, aber auch mit Betreuungseinrichtungen für Kinder bis 10 Jahren. Viele Kinderbücher spiegeln die Mehrheitsgesellschaft wider und zeigen den jungen Lesenden nicht die tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Vielfalt. Sie bieten vielen Kindern keine ausreichenden familienkulturellen, emotionalen oder genderdiversen Identifikationsmöglichkeiten. Unsere Empfehlungen sind auch als Handreichungen für die tägliche Praxis zu verstehen, die zudem eine Checkliste zur vorurteilsbewussten Einschätzung von Kinderbüchern bereithält. Zusätzlich bietet das Institut für den Situationsansatz auch Beratungen und Fort- und Weiterbildungen zu vorurteilsbewusster und diskriminierungssensibler Erziehung an.
Redaktion: Was ist ihre Motivation für die Auseinandersetzung mit dem Thema Vielfalt im Kinderbuch?
G. Koné: Wir finden es wichtig, Vielfalt sichtbar zu machen. Kinder brauchen Bücher, in denen sie sich mit ihren äußeren Merkmalen und ihren Familien, mit ihren alltäglichen Erfahrungen, ihren leichten und schweren Gefühlen, ihrem Können und ihren Fragen wiederfinden. In diesem Sinn haben wir die Auswahl von Büchern zusammengestellt, die Kinder in ihrer Identitätsentwicklung und ihrem Selbstwertgefühl stärken können. Denn dies ist die Grundlage dafür, dass sie Einfühlungsvermögen in Bezug auf Menschen entwickeln können, auch für solche, die anders leben oder anders aussehen als sie selbst. Kinder brauchen den Blick in das gesamte eigene Lebensumfeld und in die ganze Welt hinaus. Sie brauchen ermutigende Beispiele von Menschen, die gegen Ungerechtigkeiten einschreiten, um sich gegen unfaires und ausgrenzendes Handeln wehren zu können. Und diese Vielfalt muss „selbstverstänlich“ sein, d.h. dass eine marginalisierte Gruppenzugehörigkeit nicht immer ausschließlich problematisiert wird oder am Ende eines Buches aufgehoben werden muss. Ein Schwarzes Kind z.B. hat nicht per se ein Problem mit seinem Hautton und es kann so vieles mehr: es kann gut zeichnen, mag Cornflakes etc. Ist ein Kind mit einer Behinderung Hauptperson eines Buches, tendiert der Plot oft in die Richtung, dass am Ende der Geschichte die Behinderung geheilt ist. Dies trifft allerdings auf die wenigsten Behinderungen zu! Oder Kinder, deren Merkmale von der Mehrheitsgesellschaft abweichen, werden zu Beginn vieler Narrationen ausgegrenzt, dann gibt es eine Krise, das bislang ausgegrenzte Kind hat die rettende Lösung und als „Dank“ darf es nun dazu gehören. Das ist nicht inklusiv!
Redaktion: Wie sieht ihre Arbeit mit den Büchern genau aus und wer hilft Ihnen bei der Beurteilung und Auswahl der Empfehlungen?
G. Koné: Wir sind eine Arbeitsgruppe, die sich aus Fachkräften zusammensetzt, die in Bezug auf z.B. Alter, Gender, sexuelle Orientierung, Behinderung und Ethnizität sensibilisiert sind. Uns alle eint, dass wir mit Kindern in vielfältigen Lebenszusammenhängen arbeiten und zusammenleben. Passende Bücher zum Thema finden wir durch eigene Recherchen, aber auch durch unsere Kooperation mit der Fachstelle queerformat und der Buchhandlung „Dante Connection“ in Berlin-Kreuzberg, deren Mitarbeitende ihre Aufmerksamkeit seit Jahren auf Bücher im Sinne einer vorurteilsbewussten und inklusiven Bildung legen.
Für die Arbeit mit den Büchern haben wir einen Kriterienkatalog erarbeitet, der uns hilft, die Bücher auf verschiedene Aspekte der Vielfalt und Antidiskriminierung zu prüfen. Wir achten darauf, aus welcher Perspektive die Geschichten erzählt werden, wer darin repräsentiert wird, ob Stereotypen oder einseitige Erzählmuster vorkommen und ob es den allgemeinen Kriterien eines pädagogisch wertvollen Buches entspricht.
Redaktion: Gibt es denn Bücher, die allen Kriterien gerecht werden?
G. Koné: Die Abwägungen sind nicht immer leicht und häufig erfüllen leider kaum Bücher alle Kriterien. Wir lesen die Bücher immer mehrere Male und diskutieren, wie sie auf uns wirken, was gelungen ist und ob sie möglicherweise problematische Botschaften enthalten. Auch uns fällt immer wieder auf, dass unsere gesellschaftliche Positionierung und unser unterschiedliches Wissen um einzelne Aspekte von Diskriminierung die eigene Perspektive einengt und wir nur gemeinsam alle Aspekte von Vielfalt in den Blick gerichtet bekommen. Deshalb sollte uns alle eine vorurteilsbewusste Sensibilisierung für die Vielfalt in der Gesellschaft ein Leben lang begleiten.
Redaktion: Haben Sie ein Beispiel für ein Buch, das sich erst in der Diskussion als passend oder unpassend für Ihre Liste herauskristallisierte?
G. Koné: Ich erinnere mich an ein Buch über ein transgender Kind, dessen Geschichte sehr einfühlsam aus einer kindlichen Perspektive erzählt wurde. Das gefiel uns allen natürlich sehr gut. Leider mussten wir beim erneuten Lesen feststellen, dass eine Nebenfigur als dick und faul beschrieben wurde. Da fand in einer Geschichte eine sehr gelungene Sensibilisierung für die Hauptfigur statt und zeitgleich eine diskriminierende und stereotype Darstellung eines Kindes, dessen Statur nicht der vorherrschenden Norm entspricht.
Redaktion: Das ist dann natürlich schade, wenn es in einem Buch nur bedingt gelingt, auf Stereotype zu verzichten. Wie gehen Sie mit solchen Fällen um?
G. Koné: Wir weisen in unseren Empfehlungen genau auch auf solche Probleme hin. Auf unsere Liste kommen aber ausschließlich Bücher, bei denen wir feststellen, dass die positiven Kriterien überwiegen. Allerdings stellen wir immer fest, dass die Vielfalt in Kinderbüchern für Kinder bis drei Jahre sehr gering ausfällt und das, obwohl man dort gar nicht viel Text bräuchte und vieles über die Bildsprache vermittelt wird. Gerade wenn man sich den deutschsprachigen Buchmarkt anschaut. Amerikanische und französische Kinderbücher sind da z.B. schon sehr viel besser aufgestellt und es gibt auch viel mehr Autor*innen, die selbst z.B. People of Color sind.
Redaktion: Haben Sie Erklärungen dafür, warum sich die Autor*innen hierzulande eher schwertun Diversitätsaspekte und Antidiskriminierung mitzudenken?
G. Koné: Es sind ja nicht unbedingt nur die Autor*innen, die dies nicht mitdächten, es ist ja auch die Frage, welche Themen in den Verlagen gesetzt werden. Ich denke, dass die kaum vorhandene Vielfalt in Bezug auf Hauttöne in den Kinderbüchern kaum vorkommt, könnte mit der verdrängten Kolonialgeschichte und der Kontinuität alter Rollenklischees zusammenhängen. In Nordamerika haben vor allem die Kämpfe der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung mehr Widerhall auf dem Buchmarkt gefunden, auch wenn da noch viel Luft nach oben ist. Wir spiegeln unsere Eindrücke aber auch an die Verlage zurück und fragen nach, wieso die Autor*innen z.B. stereotype Darstellungen heranziehen.
Redaktion: Wie oft werden die Empfehlungslisten aktualisiert?
G. Koné: Wir nehmen jährlich Aktualisierungen vor. Die Liste mit Büchern für Kinder von drei bis sechs Jahren ist gerade neu erschienen. Darüber hinaus haben wir aber auch Kinderbuchempfehlungen zu bestimmten Themen, wie z.B. Flucht und Migration, Armut und Klassismus, zusammengestellt.
Gabriele Koné arbeitet seit 2017 für die Fachstelle Kinderwelten des Instituts für den Situationsansatz. Die Fachstelle ist 2011 aus mehreren Kinderwelten-Projekten hervorgegangen und steht für den Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Kitas und Schulen. Dieser basiert auf dem Situationsansatz und dem Anti-Bias Approach, der in den 80er Jahren von Louise Derman-Sparks und Kolleg*innen in Kalifornien für die Arbeit mit Kindern ab zwei Jahren entwickelt wurde. Die Fachstelle unterstützt Inklusive Qualitätsentwicklung in Kitas und Schulen mit Fort- und Weiterbildungen, Tagungen und Veranstaltungen, Publikationen und Materialien, Projekten zur Praxisforschung, Beratung und Expertisen sowie mit fachlicher Begleitung bei der Implementierung des Ansatzes.
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