Meldung

Eckpunkte für eine Gesamtstrategie guter sprachlicher Bildung

29.10.2020

Empfehlungen des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale (LERN)




© LERN
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Sprachliche Kompetenzen entscheiden wesentlich über Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe. Angesichts der Befunde ist eine Gesamtstrategie zur sprachlichen Bildung dringend geboten. Insbesondere in Zeiten temporärer Schließungen von Schulen sowie Einrichtungen der frühen Bildung und der Weiterbildung muss eine solche Strategie auch berücksichtigen, wie digitale Medien sprachliches Lernen sinnvoll unterstützen. Die folgenden Vorschläge für Eckpunkte einer Gesamtstrategie für sprachliche Bildung legt die Sprechergruppe des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale (LERN) hiermit vor, gemeinsam mit den Organisatoren des diesjährigen Bildungspolitischen Forums „Gute sprachliche Bildung“, das am 29. Oktober 2020 digital stattfand.

Elternbefragungen deuten darauf hin, dass bereits etwa jedes fünfte Kind unter fünf Jahren einen Sprachförderbedarf hat. In der Schule verfügt bis zu einem Viertel aller Schülerinnen und Schüler nicht über die nötigen sprachlichen Kompetenzen, um dem Unterricht folgen zu können. 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland (rund ein Fünftel) können gar nicht oder nur einfache Sätze lesen und schreiben. Diese Befunde, zuletzt zusammengetragen im nationalen Bildungsbericht Bildung in Deutschland 2020, haben weitreichende Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen und ihre Erwerbstätigkeit. Betroffen sind insbesondere sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Vor diesem Hintergrund fordert die Sprechergruppe des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale (LERN) gemeinsam mit den Organisatoren des diesjährigen Bildungspolitischen Forums „Gute sprachliche Bildung“ die Verantwortlichen in Bund und Ländern dazu auf, eine Gesamtstrategie für sprachliche Bildung zu entwickeln und umzusetzen.

„Wir beobachten einen wachsenden Anteil von Kindern in unserer Gesellschaft, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist. Ebenso erhalten viele Kinder in ihren ersten Lebensjahren nicht die nötigen sprachlichen Anregungen. Damit ist absehbar, dass ohne eine wirksam umgesetzte Gesamtstrategie sprachlicher Bildung die jetzt schon hohe Zahl an Bildungsverlierern noch weiter ansteigt. Das hätte langfristig verheerende Konsequenzen, auch für den Wirtschafts- und Wissensstandort Deutschland“, erklärt Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, Sprecher des Leibniz- Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale (LERN).

„Jedes Land sollte eine Gesamtstrategie entwickeln, die sich in allen Maßnahmen niederschlägt, von den Bildungsplänen über das Fortbildungsangebot bis hin zu den Fördermaßnahmen. Derzeit beschränken sich die Verantwortlichen zu sehr auf Einzelprojekte und Adhoc-Maßnahmen. Das muss sich ändern, damit langfristig alle Kinder und Jugendlichen über ausreichend sprachliche Kompetenzen verfügen“, erläutert der Mitorganisator des diesjährigen Bildungspolitischen Forums, Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln.

Grundsätzliche Empfehlungen
  • Die Gesamtstrategie sollte eine durchgängige sprachliche Bildung über die einzelnen Bildungsetappen von der frühen Bildung in der Kita über die Schule bis zur Erwachsenenbildung sicherstellen. Angesichts der Einschränkungen des regulären Bildungsbetriebs in Corona-Zeiten muss die Strategie auch konkrete Hinweise für die Förderung und den Unterricht auf Distanz enthalten. Eine Zusammenführung einzelner Maßnahmen und Projekte reicht nicht aus, vielmehr muss die Gesamtstrategie handlungsleitend für alle Akteur*innen innerhalb eines Landes sein und sich in der Steuerung und Umsetzung aller Maßnahmen niederschlagen.
  • Viele Lernende bringen sprachliche Kompetenzen in anderen Sprachen mit. Mehrsprachigkeit kann produktiv von den pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften genutzt werden, wenn man sie in das sprachliche Lernen integriert: In der frühen Bildung gelingt dies etwa über mehrsprachige Bücher und die Einbindung der Familiensprachen in den Kita-Alltag, in der Schule über die Möglichkeit, sich Sachverhalte in der Familiensprache zu erschließen und zu diskutieren und in der Erwachsenenbildung über den Vergleich der Herkunftssprache mit der Zielsprache Deutsch.
  • Die Gesamtstrategie sollte auch die Fortbildung pädagogischer Fachkräfte berücksichtigen. In jeder Bildungseinrichtung sollte es verbindliche Festlegungen von Verantwortlichkeiten geben, die ein Umsetzen der Gesamtstrategie und ihre Anpassung an die Bedingungen vor Ort gewährleisten.
  • Bei der Entwicklung der Gesamtstrategie sollten unabhängige Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft ausdrücklich einbezogen werden, etwa über Kommissionen und die Begleitung der Implementation sowie der Evaluation der Gesamtstrategie und einzelner Bestandteile.
Empfehlungen für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung
  • Um die Sprachentwicklung jedes Kindes in Deutsch und ggf. weiteren Sprachen optimal zu unterstützen, ist eine adäquate sprachliche Bildung und Förderung erforderlich. Hier sollte auch die Kindertagespflege einbezogen werden.
  • Eine angemessene sprachliche Anregung und Förderung sowie interaktives Sprachhandeln sollte unter Berücksichtigung der individuellen sprachlichen Entwicklung jedes Kindes geschehen. Daher ist eine konsequente Beobachtung der Sprachentwicklung notwendig.
  • Kenntnisse des (mehrsprachigen) Spracherwerbs und Konzepte zur Unterstützung der Sprachentwicklung sollten bereits Gegenstand der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte sein, die kontinuierlich in Fort- oder Weiterbildungen vertieft werden.
Ist sprachliche Förderung nur auf Distanz möglich, gibt es digitale, aber auch analoge Möglichkeiten, deren Effektivität allerdings bisher nur ansatzweise nachgewiesen ist. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
  • Fachkräfte sollten auch während möglicher Kitaschließungen den Kontakt zum Kind aufrechterhalten. Eine Möglichkeit hierfür sind Videotreffen über frei zugängliche Tools, in denen Gruppen von Kita-Kindern, Eltern und Erzieher*innen in sprachliche Interaktionen treten. Auch das Versenden kurzer (Video-)botschaften, die sich an die Kinder richten, kann helfen, in Kontakt zu bleiben.
  • Können Kinder nicht die Kita besuchen, ist das familiäre Umfeld für die Beobachtung und Anregung der Sprachentwicklung noch wichtiger, als dies ohnehin der Fall ist. In der Beobachtung der Sprachentwicklung kann das Kita-Personal Eltern unterstützen, strukturierte Beobachtungsmöglichkeiten zu nutzen (bspw. Beobachtungsbögen, Screenings). Hier bedarf es des Ausbaus und des systematischen Einsatzes digitaler Diagnosemöglichkeiten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Eltern die Sprachstandsdiagnostik übernehmen sollten. Dafür sind Fachkenntnisse zwingend notwendig.
  • Für die Aus-und Weiterbildung von Kita-Fachkräften können Online-Angebote genutzt werden, etwa in Form sogenannter Blended-Learning-Kurse, die Selbstlernphasen mit Online-Seminaren bzw. Präsenzveranstaltungen verbinden.
Empfehlungen für die Schule
  • Komplexe Texte und Zusammenhänge zu verstehen gelingt nur, wenn Kinder und Jugendliche flüssig lesen und schreiben können. Diese grundlegenden Fertigkeiten sollten Schüler*innen in der Grundschule ebenso wie in der weiteren Schullaufbahn regelmäßig mehrmals pro Woche üben. Dazu eignen sich intelligente Trainings zur Lese- und Schreibflüssigkeit sowie Lese-und Schreibstrategien. Für alle vier Bereiche gibt es wissenschaftlich fundierte Instrumente, die Lehrkräfte an Schulen einsetzen können. Der Wirkungsgrad der Trainings wird durch eine individuelle Diagnostik der vorhandenen Kompetenzen der Schüler*innen im Lesen und Schreiben erhöht.
  • Sprachliche Bildung ist nicht nur Aufgabe des Deutschunterrichts. Auch in allen anderen Fächern sind sprachliche Kompetenzen zentral für den Lernerfolg. Daher sollte das Konzept des sprachsensiblen Unterrichts, das sprachliche Heterogenität berücksichtigt und sprachliche Hilfen für das inhaltliche Lernen bereitstellt,in der Gesamtstrategie jedes Landes verankert werden.
  • Gleichzeitig ist es notwendig, Kompetenzen im Sprechen und Zuhören sowie Lesen und Schreiben mithilfe vorhandener digitaler Tools zu stärken, um sprachliches Lernen auch im Unterricht auf Distanz zu ermöglichen. Hierfür eignen sich z. B. Leseapps, kollaboratives Arbeiten an Texten mithilfe von Blogs oder Unterrichtseinheiten zum Suchen und Bewerten von Textquellen im Netz. Zentral ist, dass Lehrkräfte auch in Zeiten temporärer Schulschließungen regelmäßig persönlichen Kontakt mit ihren Schüler*innen pflegen. Für den Umgang mit neuen Lernumgebungen müssen Lehrer*innen fortgebildet werden.
  • Um den Einsatz digitaler Tools weiter voranzutreiben, sollte die Forschung zur Weiterentwicklung, zur Wirkweise und zu den Effekten digitaler Tools sprachlichen Lernens verstärkt werden.
Empfehlungen für die Erwachsenenbildung
  • Die sprachliche Grundbildung Erwachsener, ob im Kurs oder am Arbeitsplatz, sollte an die Sprach- und Alltagserfahrungen der Lernenden anknüpfen und auf konkrete Verwendungssituationen vorbereiten. Der Aufbau eines grundlegenden Wortschatzes, das Üben von Lesen und Schreiben anhand lebensweltorientierter Texte sowie die Förderung des Sprachbewusstseins und der bildungssprachlichen Kompetenzen sollten im Fokus stehen.
  • Um die individuellen Bedürfnisse der Lernenden und deren Entwicklungsverläufe berücksichtigen zu können, sollten auch in der Erwachsenenbildung förderdiagnostische Verfahren konsequent eingesetzt werden, durch dialogische, beobachtende und standardisierte Verfahren.
  • Lehrkräfte in der sprachlichen Grundbildung Erwachsener arbeiten trotz zumeist hoher Bildungsabschlüsse und beruflicher Qualifikationen häufig in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Dabei bestehen große Unterschiede in den Qualifikationsanforderungen und der Bezahlung im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung auf der einen und der Integrationskurse auf der anderen Seite. Eine weitere Professionalisierung setzt eine Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen voraus, insbesondere stabile Beschäftigungsbedingungen für die Lehrkräfte.
  • Es gibt bis dato nur unzureichende empirische Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Angeboten sprachlicher Grundbildung, insbesondere zum Kompetenzerwerb in Kursen der Alphabetisierung und Deutsch als Zweitsprache. Entsprechendes gilt für die professionellen Kompetenzen von Sprachlehrkräften. Für die Entwicklung wirksamer Konzepte und Maßnahmen wird genaueres Wissen darüber benötigt, warum Erwachsene nicht ausreichend lesen und schreiben können (geringe Literalität) und wie die Kompetenzen von Lehrkräften gezielt gefördert werden können.
  • Bei der Entwicklung digitaler Lehr-/Lernmedien sollten Lehrkräfte und Lernende eingebunden werden, um die Bedürfnisse im Praxisalltag und die vorhandenen digitalen Kompetenzen berücksichtigen zu können. Die große Heterogenität von Lernenden wie Lehrenden in der Erwachsenenbildung stellt hohe Anforderungen an die Bedienungsfreundlichkeit digitaler Tools und die (automatische) Anpassungsfähigkeit an das Niveau der Lernenden. Die Wirksamkeit der entwickelten digitalen Lehr-/Lernmedien sollte durch Interventions-und Implementationsstudien überprüft werden.
Die Empfehlungen der Sprechergruppe zum Download:
www.leibniz-bildung.de/bpf20-positionspapier

Über das Bildungspolitische Forum
Das Leibniz-Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale (LERN) veranstaltet jährlich ein Bildungspolitisches Forum zur Diskussion aktueller Herausforderungen im Bildungswesen. Das achte Bildungspolitische Forum fand am 29. Oktober 2020 in Kooperation mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und erstmals digital statt. Es haben sich 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet. Zu den Referentinnen und Referenten gehörten u. a. Christian Luft, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, der hessische Kultusminister R. Alexander Lorz und PISA-Autor Prof. Dr. Thomas Lindauer (Fachhochschule Nordwestschweiz) sowie Prof. Dr. Petra Stanat (Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)). Die Ausgestaltung übernahm das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln gemeinsam mit dem DIPF I Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, dem LIfBi | Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, dem DIE | Deutsches Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für lebenslanges Lernen, dem ZAS | Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft und der Universität Luxemburg.
Weitere Informationen: www.leibniz-bildung.de/bpf20

Über das Leibniz-Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale (LERN)
Forscherinnen und Forscher aus Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken, Linguistik, Kultur-, Medien- und Neurowissenschaften, Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie sowie Informationswissenschaft und Informatik an 25 Einrichtungen haben sich im Leibniz- Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale zusammengeschlossen, um ihre Expertise zu bündeln und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in der Bildungsadministration zu beraten.
Weitere Informationen: www.leibniz-bildung.de

Kontakt:
Anna Niewerth, Kommunikation
Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
Tel.: (0221) 470 7700
E-Mail: anna.niewerth@mercator.uni-koeln.de
www.mercator-institut-sprachfoerderung.de

Kathrin Weber-Rauland, Koordination
Leibniz-Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale (LERN)
Tel.: (069) 24708-389
E-Mail: leibniz-bildungspotenziale@dipf.de
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Redaktionskontakt: schuster@dipf.de