Bericht

15. Essener Anthologie mit Texten von Jugendlichen

12.06.2020

Ich begann zu erzählen




Titelseite der Anthologie
Titelseite der Anthologie
© Geest-Verlag
Seit 2005 rufen das Essener Kulturzentrum Grend und der Geest-Verlag Vechta alljährlich Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren dazu auf, über ihre Lebenswirklichkeit und über das, was ihnen auf der Seele brennt, zu schreiben. Mehr als 200 junge Autorinnen und Autoren aus dem gesamten Ruhrgebiet haben sich an der aktuellen Ausschreibung beteiligt und sich zu Wort gemeldet: manchmal lustig, manchmal traurig, manchmal fast in epischer Breite, manchmal lakonisch kurz. Immer wieder ist es beeindruckend, was sie schreiben und wie sie es tun. Auf jeden Fall ist es offen und ehrlich. Wie junge Menschen im Revier so sind! Erzählen hat für sie Kultur, Erzählen ist für sie Kultur, und zwar über alle Kulturen und Religionen in ihrer Region hinweg. Jedenfalls oft. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass ihr Erzählen oft genug eine literarisierende Qualität gewinnt, ja, letztlich eine literarische Qualität ist, die immer wieder überrascht. Man erwartet das einfach nicht, und doch!

Einhundertzwanzig Beiträge von einhundert Jungautorinnen und -autoren konnten in den neuen Band aufgenommen werden. Fünfzehn Kapitel sind es geworden, deren Struktur sich aus den Einsendungen ergeben hat. Und so fragt das erste nach der Initialzündung des Erzählens, nach dem Anfang des Anfangs. Das zweite wiederum thematisiert, wie es den jungen Autorinnen und Autoren gelungen ist, jenseits von Klischees eigene Worte, vielleicht sogar auch so etwas wie eine eigene Sprache, zu finden. Das dritte dagegen umfasst Episoden, die in den Alltag von Jugendlichen hineinführen und schildern, wie sie sich darin zurechtfinden. Das vierte sodann sammelt Märchen, die die Jungautorinnen und -autoren geschrieben haben, um in sie ihre Erfahrungen einzuweben, während das fünfte die Frage thematisiert, was einen jungen Menschen als Person wirklich ausmacht. Der Titel schon spricht da für sich: Wer ich wohl bin.

Ein Kapitel, das sich ganz konkret mit dem Ruhrgebiet und seinen Besonderheiten beschäftigt, gibt es natürlich auch, es ist das sechste. Es folgen einige interessante Kapitel, die sich mit den Themen Familie, Freundschaft, Schule, der ersten Liebe und dem Tod (im weiteren Sinn) auseinandersetzen. Sie enthalten zum Teil überraschende Wendungen, die man so gerade in der heutigen Zeit von jungen Leuten nicht erwartet. Etwas Besonderes sind danach die biografischen Betrachtungen im dreizehnten Teil, weil sich in ihnen einige Jugendliche in die Lebensgeschichte von bestimmten Personen hineinversetzen beziehungsweise aus dieser Perspektive heraus schildern, was diesen widerfahren ist oder widerfahren sein könnte. Sie reichen von den Erlebnissen einer jüdischen Ghettobewohnerin im Dritten Reich über ein typisches Gastarbeiterschicksal im Ruhrgebiet bis hin zu neueren Fluchtgeschichten aus dem Nahen Osten, die ihre Prägungen hinterlassen. Reflexiv ist das vorletzte Kapitel angelegt, weil die Jungautorinnen und -autoren in ihm trotz ihres noch recht jungen Alters auf Erfahrungen zurückblicken, die sie gesammelt haben, und nach dem Ertrag fragen. Manchmal haben ja Jugendliche, man sollte es nicht meinen, ungewollt einen größeren Erfahrungsschatz als so mancher Erwachsene. Sie halten inne, vergewissern sich, um von da aus (wieder) nach vorne zu schauen. Das fünfzehnte und letzte Kapitel schließlich sammelt Beiträge, in denen sich die jungen Autorinnen und Autoren mit den Zukunftsfragen beschäftigen, die sie bewegen. Im Fokus steht bei ihnen dabei natürlich der Klimaschutz, „Fridays for future“ lässt grüßen. Aber auch andere Gesichtspunkte greifen sie auf, wie etwa Fragen unseres Umgangs miteinander in einer mehr und mehr digitalisierten Welt und angesichts des zunehmenden Hasses. Was da wohl zukünftiges Glück ausmacht und ausmachen kann? Wovon wird man da wohl in Zukunft erzählen können?

Die neue Essener Anthologie ist jedenfalls ein Sammelband, der Einblick gibt in das, was die Kinder und Jugendlichen im Revier umtreibt und sie ihren Leserinnen und Lesern mitteilen wollen, ihre Erzählkulturen, in denen sie groß werden, inbegriffen. Es ist ein Band, der angesiedelt ist zwischen unserer derzeitigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie sich zurechtfinden müssen, und einem ausgesprochen starken (literarischen) Gestaltungswillen, den die Jungautorinnen und -autoren entwickeln. Es ist ein Band, der Räume zwischen den Generationen öffnet und dazu auffordert zuzuhören und selbst zu erzählen, was einen bewegt. Der vielleicht für eine neue Erzähl- und Zuhörkultur steht? Zwischen Alt und Jung? Zwischen unseren Kulturen und unseren Religionen? Eine solche Erzählkultur würde unserer Gesellschaft sicherlich an vielen Stellen weiterhelfen.

Artur Nickel (Herausgeber)

Erzähl es mir
Erzähl mir, wie es dir geht,
was in deinem Leben ansteht.
Erzähl mir, an was du alles denkst,
ob du noch an der Vergangenheit hängst.
Erzähl mir, was dich glücklich macht,
dich zum Strahlen bringt voller Pracht.
Erzähl mir, was dich verletzt,
das Leid auf dieser Welt, welches dich entsetzt.
Erzähl mir, was deinen Herzrhythmus steigen lässt,
wodurch deine Neugier und deine Freude wächst.
Erzähl mir, wie sehr du Angst hast,
dass du nicht zu den Leuten passt.
Erzähl mir von deinem Traum und deinem Ziel,
wie viel du dafür arbeitest, manchmal sogar zu viel.
Erzähl mir, wen du liebst
und bei ihm trotz Problemen bliebst.
Erzähl mir, wen du vermisst,
ob du Angst hast, dass man dich vergisst.
Erzähl mir von deinen Taten und deinem Handeln,
von deiner Entwicklung und deinem Wandeln.
Erzähl mir, wer du bist,
denn das ist das, was wichtig ist.

Dia Hawramany (17 Jahre)

Wofür ich demonstriere
Wir haben uns heute hier getroffen, um gemeinsam für besseren Klimaschutz zu demonstrieren und um ein Zeichen zu setzen, dass es so nicht weitergeht. Ich bin dankbar für jeden Einzelnen, der hier ist! Aber ich bin auch traurig, dass es überhaupt erst dazu kommen musste. Dass wir uns gezwungen fühlen, auf die Straßen zu gehen, weil wir um unsere Zukunft besorgt sind. Um die Zukunft unserer gesamten Welt und der Menschen, die hier leben.
Nicht nur die Politik hat in diesem Punkt versagt, sondern vor allem auch wir selbst, unsere Gesellschaft oder, besser gesagt, unsere Konsumgesellschaft. Wir alle tragen mit unserem Verhalten zum Klimawandel bei, das ist Fakt. Wir essen zu viel Fleisch, fahren mit dem Auto, wann immer es uns beliebt, sei es jeden Morgen in die Schule, zur Arbeit oder in den Supermarkt, der eigentlich nur zehn Minuten zu Fuß entfernt ist. Wir gehen shoppen, wollen immer die neueste Mode, den neuesten Trend. Wir kaufen und kaufen, bis unsere Schränke explodieren und wir alles Alte, nutzlos Gewordene wieder rücksichtslos wegwerfen. Ich möchte euch deswegen fragen: Sind es wirklich diese Dinge, die uns glücklich machen? Mehr Essen? Mehr Kleidung? Mehr Urlaub? Mehr Geld? Mehr?
Niemand ist perfekt und kann alles richtig machen. Aber jeder kann durch einfachste Dinge einen Teil dazu beitragen, die Zukunft der Erde, unseres Zuhauses, nicht zu zerstören, sondern lebenswert zu machen. Sehr oft ist der einfachste Weg nicht gleichzeitig auch der beste.
Klar können wir einfach schnell zum nächsten Supermarkt fahren und das billigste Fleisch kaufen, am besten siebenmal die Woche. Doch wir sollten uns auch fragen: Um welchen Preis?
Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Welt bald nicht mehr so sein, wie wir sie einmal kannten. Durch die immense Produktion von Treibhausgasen und das Abholzen der Wälder wird das allgemeine Klima immer wärmer. Es werden mehr Wetterextreme auf uns zukommen, Wirbelstürme werden öfter und vor allem auch stärker wüten. Wälder werden noch öfter und heftiger brennen, als sie es jetzt schon tun. Die Polkappen werden immer weiter und schneller schmelzen, der Meeresspiegel wird ansteigen, und das mit Mikroplastik verseuchte Wasser wird unzählige Inseln sowie Küsten überfluten. Anderswo trocknen derweil Flüsse und Seen aus, was ein Artensterben wie bei den Dinosauriern nach sich ziehen wird. Und nicht nur unzählige Tier- und Pflanzenarten sind bedroht, sondern auch wir Menschen.
Mit dem allem will ich eigentlich nur sagen: Leute, fangt an zu denken! Was ist wirklich wichtig? Fangt nicht nur an, bewusst und nachhaltig zu leben und zu konsumieren, werdet Visionäre! Helft uns, für eine Welt zu kämpfen, in der wir ohne Sorgen, Ängste und Zerstörung leben können! Ihr müsst anfangen zu verstehen, dass dies alles nicht nur gut für euch selbst ist, sondern auch für die gesamte Welt, eure Kinder und deren Kinder.

Vanessa Fernandes (19 Jahre)


Ich begann zu erzählen
Das Schreib- und Buchprojekt für junge Menschen zwischen 10 und 20 Jahren aus dem Ruhrgebiet
Artur Nickel (Hg.)
Mit einem Geleitwort von Gazal Ari (20 Jahre) und
einem Rückblick auf das Projekt von Artur Nickel (Herausgeber)
Geest-Verlag 2019, 390 S., 12 Euro
ISBN 978-3-86685-749-0


Kontakt:
Dr. Artur Nickel
Kulturzentrum Grend
Westfalenstr. 311
45276 Essen
Tel.: (02327) 974246
E-Mail: arturnickel@web.de
www.arturnickel.de

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