
Literaturpädagogische Vermittlungsmodelle aus der Praxis |
04.05.2015 |
Lese(T)räume mit den Büchern von Kirsten Boie
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© BvL e.V. |
Zum Lesen (ver)führen – oder: Was bedeutet lese- und literaturpädagogisches Handeln?
Zum Lesen verführen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ein Verführter tut etwas, das er oder sie eigentlich nicht tun will. Gleichzeitig hat Verführung etwas mit Verlockung und Hingabe zu tun. Mit Hingabe Lesende wollen ihre Begeisterung mit anderen teilen und sie am liebsten dazu bewegen, es ihnen gleich zu tun. Ist das Verführung? Machtausübung? Überzeugungsarbeit? Oder hängt das von der Betrachtungsweise und nicht zuletzt von der Haltung des Verführenden ab? Was sind seine Beweggründe? Welches Ziel soll erreicht werden? Soll jemand willig gemacht werden? Eine Pflicht erfüllen? Eine außergewöhnliche Erfahrung machen? Eine neue Sichtweise erhalten? Ins Nachdenken gebracht werden? Was bewegt Sie, wenn Sie anderen begeistert von einem Buch erzählen? Was mich?
In seinem 1992 erschienenen Buch „Comme un roman“ (dt.: Köln 1994, Wie ein Roman) zählt der französische Schriftsteller Daniel Pennac die zehn Rechte des Lesers auf, beginnend mit dem Recht, nicht zu lesen. Was als Paradoxon erscheint, ist der Schlüssel zum Lesen und zur Lese- und Literaturpädagogik, deren Arbeits- und Wirkweise im Folgenden erklärt wird.
Verführt kann nur werden, wer neugierig auf etwas ist – und die Möglichkeit hat, nein zu sagen. Dementsprechend setzt literaturpädagogisches Handeln voraus, seinem Gegenüber das Recht zuzubilligen, die eigene Leidenschaft fürs Lesen nicht nur nicht zu teilen, sondern auch abzulehnen.
Lesen als Genuss empfinden
Dies aushalten zu können, ist eine der schwierigsten Aufgaben für Lese- und Literaturpädagogen. Wissen sie doch, dass Lesen und Schreiben als grundlegende Voraussetzungen für individuelle Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Teilhabe gelten. Gleichwohl wissen sie, dass sämtliche Appelle in diese Richtung wirkungslos bleiben, wenn die intrinsische Motivation dazu fehlt, wenn man lesen muss, lesen üben muss, obwohl einem der Sinn nach etwas ganz anderem steht. Unter diesem Dilemma leiden Kinder und Jugendliche, Lehrer und Erzieher, befeuert von der Sorge vieler Eltern, die ihre Kinder optimal und effizient aufs Leben vorbereitet sehen wollen. Obwohl Lesen und Schreiben zur schulischen Grundbildung gehören, werden durch die mittelmäßigen Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler bei IGLU- und PISA-Tests bereits heute jene Kinder unter Druck gesetzt, die noch nicht einmal die Schule besuchen. Sie sollen sich nicht in die Schlange der 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten1 zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland einreihen müssen. Doch um dem vorzubeugen, bedarf es einer Art der Lese- und Literaturvermittlung, die Kinder und Jugendliche Lesen als Genuss empfinden lässt. Einfach, weil sie es wollen – und zwar unabhängig von ihrer Lektüre. Dieser Herausforderung stellt sich die Lese- und Literaturpädagogik.
Geschichten als Türöffner
Alles beginnt mit einer guten Geschichte. Je früher, desto besser. Idealerweise wird die erzählt oder vorgelesen. Doch diesen Idealfall gibt es nicht in jeder Familie. Geschichten präsentieren sich im 21. Jahrhundert in vielfältigem Gewand, sind mitunter interaktiv, bieten Kindern fertige, oft auch bewegte Bilder mit ungeahnten Wisch-, Tipp- und Spielmöglichkeiten an. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Kinder unterhalten oder belehren wollen, hier und da in einer gelungenen Symbiose. Und doch besteht ein Unterschied zur erzählten oder vorgelesen Geschichte, der für die spätere Lesekompetenz von entscheidender Bedeutung ist. Wieso?
Wenn Kindern im Vorschulalter erzählt oder vorgelesen wird, wird das meistens aus Freude und „einfach so“ gemacht. Während dieser Erzähl- und Vorlesestunden erleben Kinder die bedingungslose Zuwendung eines kompetenten Anderen, einem „Partner bei der literarischen Rezeption, der bereits mit Literatur umzugehen versteht“2 und ihnen die Tür literarischen Erlebens öffnet:
Geschichten und Bücher als „Lustmittel“, die verschiedene Dimensionen enthalten. Geschichten, die helfen, den Alltag zu verstehen. Geschichten, die helfen, sich und andere zu verstehen. Geschichten und Sachbücher, die Antworten geben. Bücher, die neue Fragen aufwerfen und nach neuen Antworten suchen. Bücher, die Assoziationen wecken und Wissen festigen. Bücher, die zum Betrachten, Verweilen und Sprechen anregen. Bücher, die auch alleine „studiert“ – im Sinne von erinnert und rekapituliert - werden können. Und nicht zuletzt Bücher, deren Inhalt Spaß macht und unterhält.
In solchen Situationen erwerben Kinder die Grundlagen literarischen Lernens, fiktionalen Rezipierens und verknüpfen neue Erkenntnisse mit vorhandenen Erfahrungen und Wissen, kurzum Strategien, auf die beim späteren Leseerwerb aufgebaut werden kann und die als Kompetenzen für eine erfolgreiche Teilnahme am schulischen Unterricht notwendig sind.
Aus literaturpädagogischer Perspektive sammeln Kinder darüber hinaus Erfahrungen, die sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken und widerstandsfähiger machen, „statt aus bloßer Langeweile Dummheiten zu machen“3 wie es Marie-Sabine Roger dem funktionalen Analphabeten Germain in ihrem Roman „Das Labyrinth der Wörter“ in den Mund legt.
Medienvielfalt erwünscht
Klick-, Tipp- und Wisch-Kinder bringen diese Strategien nur bedingt mit, weil ihre eigenen Aktivitäten auf die programmierten Möglichkeiten des Angebots beschränkt bleiben. Erschwerend müssen sie zusätzlich, parallel zum Erwerb der Lesetechnik, Strategien entwickeln, um das Gelesene verstehen und verarbeiten zu können, während zuhör- und lesegewohnte Kinder an diese anknüpfen können. Um nicht missverstanden zu werden: Lese- und Literaturpädagogen geht es nicht um das Entweder-oder von Büchern und elektronischen Medien, sondern um die Begleitung von Kindern und Jugendlichen auf ihrem Weg ins Lesen und Schreiben hinein.
In ihrem Beitrag „Lesefreude ist der Schlüssel“ beschreibt Kirsten Boie die Literaturpädagogik als unterstützende Methode, die sich eines unterschiedlichen Repertoires bedient. Dazu gehören selbstverständlich „alle zum Lesen animierenden Medien“4, wie es auch die Beispiele in diesem Buch eindrucksvoll belegen. Diese Lust machenden, zum Lesen animierenden Methoden und Medien nutzen Lese- und Literaturpädagogen, weil sie „die Welt verstehen und gestalten wollen“5. Ein Aspekt des literaturpädagogischen Handelns ist es daher, Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen zu wollen, dass sie gleichfalls „die Welt verstehen und gestalten“ können, sich in ihr zurechtzufinden und zu eigenständigen, kritisch denkenden Persönlichkeiten heranwachsen.
Verpflichtendes Lesen stört Leselust
Selbst Kinder, die eine positive und bedingungslose Lesesozialisation in Familie und Kindertagesstätte erfahren haben, erleben diesbezüglich mitunter während der ersten Schuljahre einen Bruch. Aus bedingungslosem Vorlesen und der daraus entstandenen Leselust wird die Pflicht, Lesen zu müssen. Als Dogma6 bezeichnet Daniel Pennac diesen Umstand, der ebenso wenig Früchte trägt wie die Aufforderung „Liebe mich!“7.
Lust wandelt sich in Pflicht und nicht selten Frust, was eher zu Vermeidung, denn genussvollem Lesen führt. Genuss aber ist der Mehrwert, den Leserinnen und Leser jeden Alters benötigen, um Lesen in ihr Selbstkonzept zu integrieren. Dahinter verbirgt sich die Frage, „Was bringt es mir, wenn ich lese?“ Die Antworten sind vielfältig und beinhalten Entspannung, Information, Unterhaltung oder Wissenserwerb. Dementsprechend definiert sich der Mehrwert aus der Absicht, aus welcher gelesen wird. Kindern und Jugendlichen diesen Mehrwert „schmackhaft“ – im Sinne von erfahrbar – zu machen, ist eine weitere Aufgabe der Lese- und Literaturpädagogik.
Keine Rezepte
Um dies zu erreichen, bedienen sich Lese- und Literaturpädagogen nicht stereotyper Anregungen, die häufig nur ein definiertes Ziel fokussieren. Im Mittelpunkt literaturpädagogischen Handelns steht vielmehr das Buch in seiner unterschiedlichen Wirkweise auf seine Leser, ebenso wie die Akzeptanz, dass das Buch mitunter keinen Widerhall findet. Um die Beschäftigung mit dem Buch zur „Begegnung mit dem eigenen Selbst“8 werden zu lassen, „weil es nicht von vorgegebenen Bildern ausgeht, sondern ureigene Bilder anspricht“9, nutzen Lese- und Literaturpädagogen Impulse der Kunst-, Musik-, Spiel- und Theaterpädagogik. Bücher werden nicht nur wörtlich „auseinander“ genommen, sondern ganz praktisch und ungeniert zweckentfremdet oder weiterverwertet. Dem Klang der Sprache wird nachgespürt, indem der passende Soundtrack zum Buch gesucht und gefunden oder selbst kreiert wird. Geschichten werden in Szene gesetzt, werden hinterfragt oder dienen als Ausgangspunkt eigener Gedankenexperimente. Hintergrund dieses Handelns ist die Erkenntnis, dass ausschließlich intrinsische Erlebnisse dazu führen, Lesen ins eigene Selbstkonzept zu integrieren. Appelle nutzen da gar nichts, wie Bibliothekare, Buchhändler, Eltern oder Lehrer landauf, landab wissen. Aber das Erleben von Literatur mit Bezugspersonen, die Kinder und Jugendliche in ihrer Erfahrungswelt ernst nehmen und die Beschäftigung mit Literatur nicht zwanghaft einfordern schon eher. Ein weiterer Aspekt der Lese- und Literaturpädagogik, der ihr gleichsam Wege eröffnet, die dem schulischen Unterricht und seiner ergebnisorientierten Praxis vorenthalten sind.
Freiwilligkeit
Diese methodischen Zugänge ermöglichen – ausgehend vom Buch – tiefer gehende Gespräche, welche im Idealfall auf der psychologischen Ebene im Leben der Kinder und Jugendlichen ihre Spuren hinterlassen. Spuren, die aus nicht lesenden Kindern und Jugendlichen freiwillig lesende machen, weil sie erfahren haben, dass man sich über Gelesenes ebenso zwanglos unterhalten kann, wie über einen Film oder Fußballergebnisse. Oder aber, dass die Beschäftigung mit Literatur eine Möglichkeit darstellt, sich und seine Mitmenschen ein bisschen besser zu verstehen. Selbsterkenntnis und Empathiefähigkeit sind zwei wichtige soziale Fähigkeiten, die zu einem gelingenden Zusammenleben – sei es in der Keimzelle Familie, einer Schulklasse, einer Stadt, Region oder weltweit – notwendig sind. Wenn Kinder und Jugendliche solche Erfahrungen durch literaturpädagogische Angebote erleben, können sich Lese- und Literaturpädagogen glücklich schätzen. Denn diese Erfahrung machen sie nur dann, wenn Lese- und Literaturpädagogen hinter die Bücher zurücktreten und sich davor hüten zu fragen, was verstanden wurde. Damit beugen sie sich dem Gebot der Freiwilligkeit, welches Daniel Pennac nicht nur mit dem Recht, nicht zu lesen, sondern auch mit dem „zu schweigen“10 begründet hat und einen weiteren Unterschied zum schulischen Unterricht markiert.
Die in diesem Buch versammelten Beispiele zu verschiedenen Büchern Kirsten Boies stellen einen Teil des literaturpädagogischen Potpourris exemplarisch dar. Mögen diese Anregungen zu weiteren kreativen Ideen führen, um Kindern eine Chance zu geben, die ihnen das Leben bisher nicht gegeben hat.
„Auch wenn sie alles dafür taten,
keine Vorurteile zu haben,
waren sie nicht wirklich dagegen gefeit.
Nicht, solange ihnen das Leben noch keine Chance gegeben hatte,
die Vorurteile durch wirkliche Erfahrungen zu korrigieren.“11
keine Vorurteile zu haben,
waren sie nicht wirklich dagegen gefeit.
Nicht, solange ihnen das Leben noch keine Chance gegeben hatte,
die Vorurteile durch wirkliche Erfahrungen zu korrigieren.“11
Kommt die Korrektur der Erfahrungen einer Verführung gleich? Entscheiden Sie, indem Sie sich auf das Buch und seine Anregungen einlassen.
Barbara Knieling
Fortbildungsreferentin, Lese- und Literaturpädagogin
Seit 2011 erste Vorsitzende des Bundesverbandes Leseförderung
Fortbildungsreferentin, Lese- und Literaturpädagogin
Seit 2011 erste Vorsitzende des Bundesverbandes Leseförderung
Literaturpädagogische Vermittlungsmodelle, die in der Festschrift vorgestellt werden:
Bilderbuch-Projektwochen: „Der kleine Pirat“
im Kindergarten Pinocchio in Brunnen (Heike Kielsmeier)
App geht’s! Ein Pirat zum Wischen (Heike Roegler)
Praxiserprobtes Konzept zum Bilderbuch:
„Josef Schaf will auch einen Menschen“ (Christine Dietzinger)
Klar zum Entern! Ein Abenteuer
mit Seeräubermoses (Gerlinde Schürkmann)
„Neue Abenteuer vom Ritter Trenk“ –
ein Buch-Theaterprojekt (Grundschule Dürrn)
Literatur mit digitalen Medien entdecken (Nora Littwin)
„Bei uns ist immer alles schön.“
Spielen mit den „Kindern vom Möwenweg“ (Manuela Hantschel)
Literaturvermittlung mit dem Hörbuch:
„Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi“ (Manuela Hantschel)
Figurenvielfalt und literarisches Lernen: Kirsten Boies
„Schwarze Lügen“ (Kinder- und Jugendliteraturzentrum NRW jugendstil)
Visuelles Gestalten zu „Es gibt Dinge,
die kann man nicht erzählen“ (Bianca Röber-Suchetzki)
Nicht Chicago. Oder doch?! – Ein Spiel zum Nach- und Mitdenken (Tanja Schmidt)
Kirsten Boie: eine 30-jährige literarische Entdeckungsreise (Dr. Jana Mikota)
Publikation:
Lese(T)räume mit den Büchern von Kirsten Boie
Literaturpädagogische Vermittlungsmodelle aus der Praxis für die Praxis
Eine Jubiläums-Festschrift für Kirsten Boie
Herausgegeben vom Bundesverband Leseförderung (Manuela Hantschel) und dem Verlag Friedrich Oetinger GmbH, März 2015
Livebook und Download: www.oetinger.de
Literatur:
1 leo. – Level-One Studie. Presseheft. Hamburg, 2011
2 Becker (Hrsg.), 99 neue Lesetipps – Bücher für Grundschulkinder, Seelze 2012, S. 247
3 Roger, Das Labyrinth der Wörter, München 2013, S. 77
4 Quelle: http://www.bundesverband-lesefoerderung.de/lese-und-literaturpaedagogik, Zugriff vom 1.10.2014
5 Quelle: http://www.bundesverband-lesefoerderung.de/ueber-uns/satzung, Zugriff vom 1.10.20
6 Pennac, Wie ein Roman, Köln 1994, S. 69
7 ebenda, S. 13
8 Kittel, U./Munzel, F., Lesen ist wie Wasser in der Wüste, Freiburg 1992, S. 31
9 ebenda, S. 31
10 Pennac, Wie ein Roman, Köln 1994, S. 197f
11 Boie, Schwarze Lügen, Hamburg 2014, S. 373f
Weitere Informationen:
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de