Bericht

Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?

30.09.2013

Empfehlungen von 26 Autorinnen und Autoren aus 23 Ländern




© 2013 Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V.
© 2013 Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V.
Während des 12. internationalen literaturfestival berlin fand im Rahmen der Festivalsektion „Internationale Kinder- und Jugendliteratur“ das Projekt „Eine Geschichte für Europa. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?“ statt. 26 eingeladene Autorinnen und Autoren sowie Illustratorinnen und Illustratoren diskutierten diese Fragestellung und hielten ihre Gedanken in Aufsätzen, Essays oder Kurzgeschichten fest. Jeder Gast empfahl außerdem ein Buch für die jungen Leser Europas. Entstanden ist ein facettenreiches Panorama, das Dank der finanziellen Unterstützung durch die Europäische Kommission als Buch in einer deutsch-englischen Version im Vorwerk Verlag veröffentlicht werden konnte. Die Publikation „Schlüssel für die Zukunft. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa? - Keys to the Future. What kind of Children's and Young Adult Literature does Europe need?“ wird kostenlos an die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Bildungsministerien, Schulen, Bibliotheken und Kulturinstitutionen in und außerhalb Europas verteilt. Auf der Internetseite des ilb steht das Buch im PDF-Format zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Wir veröffentlichen nachfolgend mit freundlicher Genehmigung das Intro der Projektkoordinatorin Birte Hendricks und die Empfehlungsliste für die jungen Leserinnen und Leser Europas, zusammengestellt von 26 Autorinnen und Autoren sowie Illustratorinnen und Illustratoren aus 23 Ländern.

Eine Geschichte für Europa. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
was wir unter Europa verstehen, ist wesentlich geprägt von unserer Nationalität, Kultur, Religion, unserem Alter und vielem mehr. Selbstverständlich haben auch die Autoren und Illustratoren, die für junge Leser schreiben, ganz unterschiedliche Vorstellungen von Europa. So bekennt der französische Autor Azouz Begag provokant: „Für mich existiert Europa nicht.“* Für den Österreicher Gerald Jatzek hingegen ist „Europa ein Kulturraum, in dem es für mich ein paar Schnittpunkte gibt, wo oft verschiedene regionale Strömungen zueinander kommen und sich sehr interessante Dinge entwickeln, ohne ihre eigene Identität aufzugeben.“

Seit der Gründung des Festivals im Jahr 2001 spielt Europa, Literatur aus europäischen Ländern und das Europäische in der Literatur für das internationale literaturfestival berlin eine wichtige Rolle. Zum 12. Festival im September 2012 richtete auch die Sparte „Internationale Kinder- und Jugendliteratur“ mit dem Projekt „Eine Geschichte für Europa. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?“ den Fokus auf Europa. 26 Autoren und Illustratoren waren
eingeladen: Azouz Begag (Frankreich), Chen Jianghong (China/Frankreich), Mariana Chiesa Mateos (Argentinien/Italien), Iwona Chmielewska (Polen), Gabriela Cichowska (Polen), Dibou (Frankreich/Ägypten), Enzo (Taiwan), Kate De Goldi (Neuseeland), Golo (Frankreich/Ägypten), John Green (USA), Finn-Ole Heinrich (Deutschland), Tendai Huchu (Schottland/Simbabwe), Adam Jaromir (Deutschland/Polen), Gerald Jatzek (Österreich), Farideh Khalatbaree (Iran), Jan de Leeuw (Belgien), Nils Mohl (Deutschland), Salah Naoura (Deutschland), Uri Orlev (Polen/Israel), Maria Papayanni (Griechenland), Maria Parr (Norwegen), Peter Pohl (Deutschland/Schweden), Iva Procházková (Tschechien/Deutschland), Janne Teller (Dänemark), Rachel Ward (Großbritannien), Robert Paul Weston (Großbritannien), Floortje Zwigtman (Niederlande).

Sie alle diskutierten in Berlin in Panels, Lesungen und Workshops über außergewöhnliche Kinder- und Jugendliteratur und die Rolle Europas darin. Im Fokus der Diskussionen stand dabei das Europa-Verständnis der Autoren und Illustratoren und wie es sich in ihrem literarisch-künstlerischen Schaffen zeigt. Im Rahmen des Projekts wurden die Autoren und Illustratoren gebeten, die Frage „Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?“ in Form von Essays, Aufsätzen oder Kurzgeschichten zu beantworten. Entstanden ist ein facettenreiches Panorama mit Gedanken zur Literatur für junge Leser und darüber, ob und wie sie die europäische Identität der jungen Generation zu vertiefen vermag. So betont der deutsche Autor Salah Naoura: „Gestehen wir Kindern – und ihren literarischen Vorbildern – mehr Unangepasstheit zu. Lassen wir zu, dass sie unbequem sind und eigene Wege gehen. Nur so schaffen wir in Europa eine Kultur der Toleranz und des Bemühens um Freiheit und Gerechtigkeit.“

Teil des Projekts war auch der Aufbau einer „Bibliothek für Europa“. Die eingeladenen Autoren und Illustratoren wurden im Vorfeld des ilb aufgefordert, ein Buch zu nennen, das für sie die europäische Idee exemplarisch darstellt oder das sie in ihrer literarischen Sozialisation besonders geprägt hat und das sie den jungen Lesern in Europa empfehlen möchten. Diese Bücher wurden während des Festivals im Haus der Berliner Festspiele ausgestellt und werden hiermit nun als Empfehlungsliste an Leserinnen und Leser in Europa weitergegeben.

Die Empfehlungsliste spiegelt die ganze Bandbreite der notwendigen Literatur für junge Leser wider: Lyrik, Bilderbücher mit ungewöhnlichen Illustrationen, Geschichten über Räuber und Könige, ein Epos in Hexametern, philosophische Abhandlungen oder Wirtschaftstheorien in Romanform.

In ihren Begründungen für die Auswahl eines Buches geben manche Autoren und Illustratoren Einsichten in Erlebnisse ihrer Kindheit preis. Von dem polnisch-israelischen Autor Uri Orlev erfahren wir, dass „Bambi“ von Felix Salten nicht nur sein Lieblingsbuch war, sondern dass es für ihn zu einem Abbild seiner persönlichen Lebensgeschichte wurde. Die Illustratorin Mariana Chiesa Mateos fand in Anne Franks „Tagebuch“ Parallelen zu ihren eigenen Erlebnissen während der Militärdiktatur in ihrem Heimatland Argentinien. Sie war zu der Zeit im gleichen Alter wie Anne und hielt wie sie ihre Erlebnisse in Tagebuchform fest. „Ein gutes Buch für Kinder und Jugendliche muss unbedingt ein Gedächtnis beinhalten. Ein Gedächtnis dessen, was früher war, weil es wiederum eine Brücke
zur Zukunft bildet“, ergänzt die tschechische Autorin Iva Procházková. Mit „Die Mauer. Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen“ von Peter Sís wählte sie ein Buch aus, das ihre eigenen Erfahrungen in Prag teilt.

Die dänische Autorin Janne Teller empfiehlt „Die Philosophie des Abendlandes“ von Bertrand Russell, ein Buch, das für heutige Europäer deshalb so wichtig sei, „weil es ihnen sagt, auf welcher Stufe wir als Bürger in Europa, aber auch als europäische Bürger in der Welt stehen.“

Natürlich finden sich auch weltweit beliebte Klassiker in der „Bibliothek für Europa“, Astrid Lindgrens „Ronja Räubertochter“ etwa, das die Norwegerin Maria Parr ausgewählt hat. Als Kind wollte die Autorin sein wie die Hauptfigur Ronja, doch später spürte sie, „wie wichtig es ist, dass Ronja ein Mädchen war; das sprengte alle Grenzen dessen, was möglich und normal war“. Oft wurden Bücher mit der Begründung ausgewählt, sie seien ungewöhnlich oder neuartig. So ist Finn-Ole Heinrich von „Wer ist hier der Chef?“ von Bart Moeyaert begeistert: „Das ist so schön, so klug, so außergewöhnlich, dass man sich sicher ist: So ein Buch hatte man wahrscheinlich noch nie in der Hand.“

Adam Jaromir, der „Farben des Tages“ von Kv¥ta Pacovská ausgewählt hat, hinterfragt die Rolle der Eltern, wenn es um ungewöhnliche Bücher geht: „Viele Eltern werden sich sicherlich an diesem Buch stören, sie werden sagen: Das enthält doch keinen Text, und dann sind das so kühne Illustrationen. Mein Kind wird damit wahrscheinlich nichts anfangen können!“ Dabei stelle er bei Veranstaltungen mit Kindern genau das Gegenteil fest.

Was zu der Frage führt: Was ist überhaupt unter Kinder- und Jugendliteratur zu verstehen?

„Es gibt keine Jugendliteratur“, betont Nils Mohl – eine Auffassung, die viele der hier versammelten Autoren und Illustratoren teilen. So meint die niederländische Autorin Floortje Zwigtman: „Wenn ich schreibe, dann frage ich mich nicht, für wen ich das schreibe.“ Sie sehe es kritisch, dass Schriftsteller wie sie den Stempel „Jugendbuchautorin“ aufgedrückt bekämen – „dabei habe ich festgestellt, dass mehr als 50 Prozent meiner Leser Erwachsene sind.“ Nach ihrer Erfahrung führe eine solche Kategorisierung dazu, dass die Bücher im Buchhandel in der Kinder- und Jugendbuchabteilung stünden und daher vom erwachsenen Lesepublikum kaum wahrgenommen würden. Tendai Huchu aus Simbabwe, der sich ebenfalls gegen eine Kategorisierung von Autoren, Illustratoren und Büchern ausspricht, sieht die Diskussion allerdings gelassen: „Das Wichtigste ist doch die Qualität, dass es eine gute Geschichte ist, und nicht in welche Kategorie sie am Ende gesteckt wird.“ Iva Procházková hingegen schreibt für ein ganz bestimmtes Publikum. Es komme sogar vor, dass sie sich vor dem Schreiben sage: „Diese Geschichte ist für Jugendliche in Europa.“

Die britische Autorin Rachel Ward hat auf ihren Lesereisen quer durch ganz Europa festgestellt, dass für alle Jugendlichen – egal welcher Nationalität – vor allem ein Thema entscheidend ist: „being a teenager“. Tendai Huchu fragt ähnlich pointiert: „Welcher Jugendliche sitzt denn da und sagt sich: Jetzt denke ich mal über Europa nach, anstatt mich mit Popkultur zu beschäftigen?“ Rachel Ward zufolge interessierten sich junge Menschen vor allem für Themen, die mit dem Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden zusammenhängen, und sie hätten keinesfalls Angst vor großen Themen wie Leben, Tod und Liebe.

Auch wenn bei vielen Jugendlichen die nationale Identität stärker ist als die europäische, hat Literatur das Potenzial, junge Menschen in Europa miteinander zu verbinden. In diesem Sinne sieht Gabriela Cichowska „ein Buch als Brücke, über die der junge Leser erfahren kann, dass sich die Menschen überall auf der Welt in ihren Bedürfnissen und Wünschen ähneln.“ Dabei sei es gleichgültig, ob sie aus einem Dorf oder einer Großstadt kommen, ergänzt die griechische Autorin Maria Papayanni: Jeder noch so kleine Ort sei schließlich ein „Sandkorn im großen Europa“. Azouz Begag appelliert daher an Autoren, Illustratoren und alle Botschafter des Lesens: „Die Kinder und Jugendlichen sind eine neue Generation eines neuen Europa. Jetzt ist die Zeit, um dieses neue Europa zu bauen – auch das Europa einer neuen Kinder- und Jugendliteratur.“

Seit 2001 baut das Kinder- und Jugendprogramm des ilb Brücken zwischen Autoren, Illustratoren und jungen Lesern in Europa und der Welt. Ich lade Sie ein, mit „Schlüssel für die Zukunft. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?“ neue Perspektiven zu entdecken und diese Brücken auch in Ihrem Land weiterzubauen. Das ilb dankt dem Programm „Kultur“ der Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission für die Förderung des Projekts.

Autorin: Birte Hendricks

* Die Zitate der Autoren und Illustratoren stammen aus Podiumsdiskussionen, die beim 12. ilb stattgefunden haben, sowie aus den hier versammelten Texten.

Empfehlungsliste für die jungen Leser Europas
Zusammengestellt von 26 Autorinnen und Autoren sowie Illustratorinnen und Illustratoren des 12. internationalen literaturfestivals berlin, Programmsektion „Internationale Kinder- und Jugendliteratur“.

Jeannie Baker: „Mirror“
Empfohlen von Gabriela Cichowska (Polen)

Ray Bradbury: „Fahrenheit 451“
Empfohlen von Tendai Huchu (Schottland/Simbabwe)

Melvin Burgess: „Junk“
Empfohlen von Floortje Zwigtman (Niederlande)

Aidan Chambers: „Tanz auf meinem Grab“
Empfohlen von Jan de Leeuw (Belgien)

Mariana Chiesa Mateos: „Migrando“
Empfohlen von Mariana Chiesa Mateos (Argentinien/Italien)

Paulo Coelho: „Der Alchimist“
Empfohlen von Enzo (Taiwan)

Mischa Damjan, Yvonne Rothmayr: „Die Maus, die an das Gute glaubte“
Empfohlen von Janne Teller (Dänemark)

Ursula Dubosarsky: „The Red Shoe“
Empfohlen von Kate De Goldi (Neuseeland)

Michael Ende: „Momo“
Empfohlen von Robert Paul Weston (Großbritannien)

Anne Frank: „Tagebuch“
Empfohlen von Mariana Chiesa Mateos (Argentinien/Italien)

Heinrich Hoffmann: „Der Struwwelpeter“
Empfohlen von Chen Jianghong (China/Frankreich)

Homer: „Odyssee“
Empfohlen von Maria Papayanni (Griechenland)

Farideh Khalatbaree: „Me and My Friends“
Empfohlen von Farideh Khalatbaree (Iran)

Watt Key: „Alabama Moon“
Empfohlen von Salah Naoura (Deutschland)

Astrid Lindgren: „Mio, mein Mio“
Empfohlen von Peter Pohl (Deutschland/Schweden)

Astrid Lindgren: „Ronja Räubertochter“
Empfohlen von Maria Parr (Norwegen)

Doris Meisner-Johannknecht, Melanie Kemmler: „Ein Geburtstag“
Empfohlen von Iwona Chmielewska (Polen)

Margaret Mitchell: „Vom Winde verweht“
Empfohlen von Dibou (Frankreich/Ägypten)

Bart Moeyaert, Katrien Matthys: „Wer ist hier der Chef?“
Empfohlen von Finn-Ole Heinrich (Deutschland)

Iona Opie, Peter Opie: „The Oxford Nursery Rhyme Book“
Empfohlen von Gerald Jatzek (Österreich)

Kv¥ta Pacovská: „Farben des Tages“
Empfohlen von Adam Jaromir (Deutschland/Polen)

Philip Pullman: „Der goldene Kompass“
Empfohlen von Rachel Ward (Großbritannien)

Bertrand Russell: „Philosophie des Abendlandes“
Empfohlen von Janne Teller (Dänemark)

Antoine de Saint-Exupéry: „Nachtflug“
Empfohlen von Azouz Begag (Frankreich)

Felix Salten, Maja Dusikova: „Bambi – Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“
Empfohlen von Uri Orlev (Polen/Israel)

Peter Sís: „Die Mauer – Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen“
Empfohlen von Iva Procházková (Tschechien)

Robert Louis Stevenson: „Die Schatzinsel“
Empfohlen von Golo (Frankreich/Ägypten)

Tzvetan Todorov: „Abenteuer des Zusammenlebens – Versuch einer allgemeinen Anthropologie“
Empfohlen von Nils Mohl (Deutschland)

Publikation:
Schlüssel für die Zukunft. Welche Kinder- und Jugendliteratur braucht Europa?
Keys to the Future. What kind of Children's and Young Adult Literature does Europe need?
Birte Hendricks, Christoph Peter, Ulrich Schreiber (Hrsg.)
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2013
ISBN 978-3-940384-61-4
Download: www.literaturfestival.com/kjl/eu

Kontakt:
internationales literaturfestival berlin
Internationale Kinder- und Jugendliteratur
Chausseestraße 5
10115 Berlin
Tel.: (030) 27 87 86 70
E-Mail: kjl@literaturfestival.com
Internet: www.literaturfestival.com/kjl
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de