interview

Weltalphabetisierungsdekade: Rückblick, Durchblick, Ausblick

06.12.2012

Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. zieht Bilanz




Titelseite der Broschüre
Titelseite der Broschüre
© Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.
Die Weltalphabetisierungsdekade endet im Jahr 2012. Aus diesem Anlass erstellte der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. eine Broschüre, die die umfangreichen Aktivitäten des Verbandes von 2003 bis 2012 in Jahresrückblicken illustriert. In der Publikation mit dem Titel „Weltalphabetisierungsdekade: Rückblick, Durchblick, Ausblick“ beschreibt der Verband sein Angebots-ABC und zeigt eine Übersicht der von ihm ausgezeichneten Botschafter für Alphabetisierung. Er benennt seine Ziele und liefert im Ausblick seine Einschätzungen, was mit Blick auf aktuelle Handlungsfelder und Herausforderungen zu tun bleibt. Wegbegleiter und Unterstützer des Verbandes aus Unternehmen, Institutionen und Wissenschaft erklären, warum und wie sie sich für die Alphabetisierung engagieren. Im Interview erläutert Geschäftsführer Peter Hubertus die Rolle von Betroffenen und Sponsoren im Bundesverband und erklärt, wie sie sich einbringen. Er beschreibt Alleinstellungsmerkmale und Entwicklungen des Verbandes. Nicht zuletzt skizziert er Entwicklungen der Sozialkampagne „Schreib dich nicht ab. Lern lesen und schreiben!“ sowie der Anruferzahlen beim ALFA-TELEFON. Die Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Herausgeber Andreas Brinkmann fasst zusammen: „Wir hoffen, Akteuren mit dieser Veröffentlichung einen lebendigen Überblick über unser Tätigkeitsspektrum  zu liefern und Entscheidern Anregungen für die Bewältigung künftiger Herausforderungen zu geben.“
Die Broschüre: „Weltalphabetisierungsdekade: Rückblick, Durchblick, Ausblick“ steht zum Download zur Verfügung unter: www.alphabetisierung.de.

Spots, Sport und Service oder... Drei Facetten des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung
Peter Hubertus, Gründungsmitglied und Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V., hat 22 Jahre als Kursleiter in Lese- und Schreibkursen gearbeitet. Seit 1985 führt er die Einführungsveranstaltungen in die Alphabetisierungsarbeit durch. Im Interview erläutert er Besonderheiten und Entwicklungen des Verbandes.

Wenn Sie die Weltalphabetisierungsdekade Revue passieren lassen, was waren besondere Erfolge Ihres Verbandes?
Peter Hubertus: Zu Beginn gab es den „Corso der Lichtgestalten“. Das war nicht nur eine Reise durch 36 Städte in ganz Deutschland und eine beeindruckende Verbindung von Kunst und Alphabetisierung, sondern auch der Start des Alfa-Mobils, das immer noch unterwegs ist. Für mich ist damit aber auch verbunden, dass sich alle Partner im „Bündnis für Alphabetisierung“ gemeinsam auf diese Aktion im ersten Jahr der Weltalphabetisierungsdekade verständigt haben. Später war das Projekt „F.A.N.“ (Fußball. Alphabetisierung. Netzwerk.) bedeutend, weil es unser Thema in die Stadien transportierte – ebenfalls begleitet durch das Alfa-Mobil. Besonders erwähnenswert sind weiterhin das Projekt iCHANCE, das sich mit neuen Medien an junge Erwachsene richtet, und die zehn Fachtagungen, die wir durchführen konnten. Dadurch ist es gelungen, wichtige Themen, die in den Bernburger Thesen formuliert worden sind, zu bearbeiten.

Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit anderen Bildungsinstitutionen in Deutschland?
Peter Hubertus: Da wir als Verband keine Lese- und Schreibkurse anbieten, stehen wir nicht in Konkurrenz mit anderen Einrichtungen, sondern unterstützen diese in ihrer Arbeit. Das erleichtert die Zusammenarbeit deutlich. Wir machen vor allem Lobbyarbeit für Lernende, Lehrende und Weiterbildungseinrichtungen.
Außerdem verstehen wir uns als Serviceeinrichtung: Wenn wir z.B. Plakate für die Öffentlichkeitsarbeit anbieten, wird natürlich auf das Alfa-Telefon hingewiesen. Die Einrichtungen können jedoch zusätzlich ihr eigenes Logo und ihre eigene Telefonnummer einfügen.

Wodurch unterscheidet sich Ihre Arbeit von den Aktivitäten anderer Akteure im Alphabetisierungs- und Grundbildungsbereich?
Peter Hubertus: Wir konzentrieren uns auf die beiden Bereiche, die im Namen des Verbandes benannt sind: Alphabetisierung und Grundbildung. Als Fachverband arbeiten wir zielgruppenübergreifend für Deutschsprachige, MigrantInnen oder Erwachsene mit Behinderung. Und wir arbeiten institutionenunabhängig mit Volkshochschulen, Vereinen und Wohlfahrtsverbänden zusammen.

Wie hat sich die Zahl von Anrufen beim Alfa-Telefon und von Teilnehmenden in Alphabetisierungskursen in den letzten zehn Jahren entwickelt?
Peter Hubertus: Die Resonanz am Alfa-Telefon ist direkt von der Medienpräsenz abhängig. Vor zehn Jahren konnten wir sehr viele unserer Spots aus unserer Sozialkampagne „Schreib dich nicht ab. Lern lesen und schreiben“ in den privaten TV-Sendern ausstrahlen. Im Jahr 2002 gab es deshalb 5.353 Anrufe beim Alfa-Telefon. Wir hätten sogar noch deutlich mehr Menschen beraten und in Kurse vermitteln können, aber dafür reichten unsere Kapazitäten nicht aus. In den
Folgejahren nahm die Zahl der TV-Ausstrahlungen nach und nach ab. Damit sanken die Anruferzahlen beim Alfa-Telefon, die Nachfrage nach Kursen wurde geringer und damit wiederum das Kursangebot. Das betrifft vorwiegend die Lese- und Schreibkurse für deutschsprachige Erwachsene.

Kampagnen gibt es viele – was zeichnet Ihre Sozialkampagne „Schreib dich nicht ab. Lern lesen und schreiben!“ aus?
Peter Hubertus: Besonders ist, dass die Kampagne „Schreib Dich nicht ab. Lern lesen und schreiben“ eine Null-Budget-Kampagne ist. Bei den Fernsehspots haben die Schauspieler ohne Gage mitgewirkt, ebenso die Produktionsgesellschaft und die Werbeagentur Grey Worldwide. Die privaten Fernsehsender haben die Spots über Jahre hinweg immer wieder kostenlos ausgestrahlt, allein im Jahr 2004 im Wert von 9,8 Mio. Euro.

Wie viel Gehör findet der Bundesverband bei Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Bildung?
Peter Hubertus: „Funktionaler Analphabetismus“ ist ein sperriger Begriff, man muss ihn immer erklären. Mitte der 80er Jahre, als ich in der Alphabetisierungsarbeit anfing, wurden wir häufig als „Nestbeschmutzer“ betrachtet, die das Ansehen Deutschlands beschädigen. Mittlerweile – nach PISA und LEO – fällt es leichter, mit anderen Akteuren und Bildungspolitikern ins Gespräch zu kommen; aber wir sind noch lange nicht am Ziel.

Wie kommen Betroffene im Bundesverband zu Wort?
Peter Hubertus: Viele Jahre galt: Funktionale Analphabeten sind nicht nur schriftlos, sondern auch sprachlos. Sie haben sich aus Scham nicht für ihre Interessen eingesetzt. Dies gilt zum Glück für immer weniger Betroffene. Auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig setzen wir regelmäßig Veranstaltungen um, bei denen Lernende zu Wort kommen. Auf unserer jährlichen Fachtagung gibt es seit einiger Zeit Workshops, die von Lernern für Lerner angeboten werden.
In diesem Jahr wurde ein Manifest präsentiert, das in einem europäischen Projekt von Lernenden erarbeitet wurde. Wir hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt und weitere Selbsthilfegruppen entstehen.

Wie wichtig sind Sponsoren für Ihre Arbeit?
Peter Hubertus: Mit einem Wort: überlebenswichtig. So wichtig die Projektförderung durch das Bundesbildungsministerium auch ist – wir erhalten keine institutionelle Förderung durch öffentliche Mittel. Damit die Geschäftsstelle des Verbandes existieren kann und weiter existieren wird, sind wir auf unsere
Sponsoren angewiesen.

Wenn man dem Verband morgen einen Scheck in Höhe von 10 Millionen Euro überreichen würde – wie würden Sie das Geld investieren?
Peter Hubertus: In die Alfa-Stiftung. Von den Erlösen könnten wir eine Grundfinanzierung des Verbandes ermöglichen und müssten nicht Jahr für Jahr hoffen, dass Spenden, Einnahmen aus Sponsoring und Mitgliedsbeiträge ausreichen. Aus den Erlösen der Stiftung könnten dann auch Zuschüsse für Kursgebühren gezahlt werden.

Wo liegen für Sie mit Blick auf die nächsten zehn Jahre besondere Herausforderungen?
Peter Hubertus: Bund, Länder, aber auch der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband und weitere wichtige Akteure haben sich im September 2012 auf eine „Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung“ verständigt. Bisher waren die Aktivitäten in den jeweiligen Bundesländern und die Projektförderung durch das Bundesbildungsministerium nicht miteinander abgestimmt. Mit der „Nationalen Strategie“ besteht dafür nun eine Chance. Eine weitere Herausforderung ist jedoch, dass alle an der Strategie Beteiligten erkennen: Alphabetisierung und Grundbildung ist eine Daueraufgabe. Kurse und Projekte allein reichen zur Bewältigung der daraus erwachsenden Aufgaben nicht aus. Wir brauchen Zielvorgaben, Zeitpläne und verlässliche Strukturen für die Umsetzung. An dieser Stelle sehe ich eine Zukunftsaufgabe für unseren Verband als nicht interessensgeleitete neutrale übergreifend wirkende Institution.

Herr Hubertus, wir danken Ihnen für das Interview und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.

Das Interview führte Andreas Brinkmann.

Kontakt:
Andreas Brinkmann
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.
Berliner Platz 8-10
48143 Münster
Tel.: (0251) 49 09 96 41
E-Mail: a.brinkmann@alphabetisierung.de
Internet: www.alphabetisierung.de

Redaktionskontakt: schuster@dipf.de