
Lesen und Verstehen |
15.08.2012 |
Ein Leitfaden für individuelle Lesebegleitung
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Titelseite des Leitfadens © Alexander von Lengerke |
Über dieses Buch – Eine pädagogische Einstimmung
Liebe Lesebegleiterinnen und -begleiter!
Sie haben sich entschieden, Kinder oder Jugendliche in ihrer Leseentwicklung zu fördern. Wie wichtig diese Aufgabe ist, brauchen wir hier nicht eigens zu begründen. Sie wissen: Sprache ist der „Schlüssel zur Welt“ und Lesen die Voraussetzung zur Teilnahme an unserer Kultur.
Mit diesem Buch möchten wir Ihnen Tipps weitergeben, wie Sie dabei vorgehen können. Vorweg gesagt: Es gibt keine Patentrezepte! Jedes Kind ist anders und muss individuell begleitet werden. Aber es ist gut, dafür Werkzeuge in der Hand zu haben, ein Repertoire von Methoden, unter denen Sie auswählen, die Sie natürlich auch nach Belieben erweitern oder abwandeln können.
Das Buch besteht aus zwei Teilen: dem Leitfaden und der Werkzeugkiste. Der Leitfaden vermittelt Grundlagen der Lesebegleitung. Die Werkzeugkiste enthält Beispiele und methodische Tipps. Beide folgen der gleichen Gliederung, so dass Sie sich gut zurechtfinden können.
Das Buch richtet sich an Menschen, die Kinder und Jugendliche beim Lesen begleiten:
- Eltern,
- Lesepatinnen und -paten,
- Studierende,
- Lehrerinnen und Lehrer, die Anregungen zur individuellen Förderung suchen.
Lesebegleitung – das kann Vieles heißen. Vielleicht lesen Sie im Kindergarten oder in der Grundschule Geschichten vor. Vielleicht sprechen Sie mit den Kindern über Geschichten, lassen sie Bilder dazu malen und erzählen. Vielleicht „schreiben“ die Kinder Kritzelbriefe und „lesen“ sie Ihnen vor. Vielleicht helfen Sie einem Grundschulkind, die ersten Hürden zu überwinden, oder Sie stellen ihm Kinderbücher vor und lesen mit ihm zusammen. Vielleicht arbeiten Sie mit älteren Schülerinnen und Schülern, die sich mit einem Sachtext abmühen oder ein Jugendbuch vorstellen sollen.
Es werden in der Regel leseschwache Kinder sein, die Sie betreuen, denn die anderen sind auf eine solche individuelle Hilfe nicht angewiesen. Lesen lässt sich vergleichen mit dem Anstieg auf einer steilen Treppe. Leseschwäche entsteht dadurch, dass ein Kind eine der Stufen nicht erreicht oder übersprungen hat und dann die nächste nicht schafft. Vielleicht hat es Misserfolge erlebt und darum keine Freude am Lesen oder sogar Angst davor. Vielleicht fehlt es ihm an Anregungen. Vielleicht liest es flüssig (im technischen Sinn), versteht aber nicht, was es liest, weil der Inhalt oder die Sprache oder beides zu kompliziert ist. Oft wirken alle diese Ursachen zusammen. Das Kind ist eben „schlecht“ im Lesen und empfindet sich auch so. Dann steckt es in einem Teufelskreis, aus dem es nur schwer oder gar nicht herauskommt. Dabei können Sie ihm helfen.
Ihre Aufgabe als Lesebegleiter kann nicht darin bestehen, eine „Lesetreppe“ zu konstruieren – das ist Sache des Fachunterrichts. Jedes Kind muss selbst hinaufklettern. Dazu können wir es weder zwingen noch können wir ihm die Mühe abnehmen. Sie können aber als freundliche und geduldige Begleiterinnen und Begleiter Kindern helfen, die nächste Stufe zu erreichen, indem Sie sie immer wieder ermutigen hinaufzusteigen und dabei Hilfestellung geben. Vor allem können Sie ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern aufbauen, mit denen Sie arbeiten. Die wichtigste Grundlage für gelingendes Lernen sind verlässliche Beziehungen! Für ein Kind ist es darum eine große Chance, zu wissen: Hier ist ein Mensch, der für mich da ist, der es gut mit mir meint, auf den ich mich verlassen kann.
Kinder im 2. oder 6. Schuljahr sind natürlich unterschiedlich weit und müssen individuell unterschiedlich begleitet werden. Aber wir sind überzeugt: Lesen ist Lesen: eine sehr komplexe Fähigkeit, die sich aus Teilkompetenzen zusammensetzt. Es ist wichtig, sie zu kennen, zu verstehen, wo das Kind steht, um dann behutsam Anregungen und Hilfen zu entwickeln. Dieser Begleitprozess ist selbst einer Treppe vergleichbar. Deren Stufen stellen wir uns und Ihnen so vor:
- Mit eigenem Beispiel vorangehen: Vermitteln Sie den Kindern, wie wichtig Lesen für das eigene Leben ist, wie viel Freude es macht, wie schön es ist, gemeinsam zu lesen und vorzulesen. Suchen Sie eine ruhige, lesefreundliche Umgebung auf, erfinden Sie kleine Rituale, die das gemeinsame Lesen zu einem besonderen Erlebnis machen.
- Kinder für Geschichten begeistern: Sie bringen Bücher mit, stellen sie vor, lesen eine besonders schöne Geschichte vor. Sie ermutigen die Kinder zum Erzählen, Nacherzählen, Weitererzählen. Sie sollen neugierig, am besten „süchtig“ nach Geschichten werden: auf Zuhören, Erzählen, Lesen und Schreiben.
- Echte Lese- und Schreibanlässe schaffen: Die Begründung „Du musst üben!“ wird ein Kind kaum vom Hocker reißen. Die Begründung „Du willst doch gute Noten haben!“ lenkt seine Aufmerksamkeit von der Sache ab und darum in eine falsche Richtung. Wenn das Kind hingegen liest oder schreibt, weil es jetzt für sein Leben wichtig ist, haben Sie einen echten Anlass geschaffen. Das können Kochrezepte oder Briefe sein, Erklärungen aus Sachbüchern, geheime Botschaften, Spielanleitungen...
- Mit den Kindern über Bücher und Lesevorlieben sprechen: Welche Geschichten kennen sie? Was hat dieses Kind schon gelesen? Was liest es gern, was nicht? Warum nicht? Wofür interessiert es sich? Worüber würde es gern mehr erfahren? Was kann es dazu lesen?
- Genau beobachten, verstehen, was und wie die Kinder denken: Diese Aufgabe wird mit dem Begriff „Diagnostik“ zusammengefasst. Er kann jedoch irreführend sein; ein leseschwaches Kind ist ja nicht krank! Es geht auch nicht darum, mit Hilfe von Apparaten etwas „festzustellen“ und dann eine „Therapie“ festzulegen. Sondern es geht darum, einen Prozess zu begleiten. Pädagogische Diagnostik orientiert sich an drei Leitfragen: Was kann das Kind schon? Was muss es lernen? Wie kann der nächste Schritt aussehen? Besonders wichtig ist darum, dass Sie das Denken und die Fortschritte der Kinder genau beobachten.
- Die Angst vor dem Lesen nehmen, Stärken sehen: Darum ist es einseitig, Förderung so zu verstehen, dass zunächst einmal Defizite zu ermitteln sind. Damit wird dem Kind noch einmal bestätigt, dass es „schlecht“ ist. Finden Sie aber heraus, was es schon kann, wo es also „gut“ ist, können Sie es bestärken und ermutigen. Dann hat es eine Chance, den Teufelskreis zu durchbrechen.
- Mit kleinen Schritten beginnen, Erfolge sichern: Nichts braucht ein Kind zum Lernen dringender als Erfolge und nochmals Erfolge! Lassen Sie es zeigen, was es kann, geben Sie ihm viele kleine Anlässe, um diese Erfolge zu wiederholen, geben Sie ihm Bestätigung und Ermutigung. Vermeiden Sie unbedingt falsches Lob; das ist kontraproduktiv, denn die Kinder haben meist ein sehr gutes Gespür dafür, was sie geleistet haben.
- Zur Leistungssteigerung ermutigen und herausfordern: Helfen Sie dem Kind, die „Zone der nächsten Entwicklung“ zu erreichen, wie es in der Fachliteratur heißt: durch spannende Aufgaben, Herausforderungen, die das Kind bewältigen kann, durch Ansporn, Lob und konstruktive Kritik.
Wir haben dieses Buch so angelegt, dass es für die Begleitung eines Grundschulkindes ebenso geeignet ist wie für die von älteren Schülerinnen und Schülern. Wir haben es nach Bereichen gegliedert, die für die Leseförderung wichtig sind:
- Freies Lesen, Lesemotivation
- Sinnentnehmend und sinngebend lesen
- Wortschatz aufbauen und erweitern
- Texte „aufschließen“, das Verständnis sichern
- Das Denken an Texten schulen
Diese Kapitel sollen Ihnen einen systematischen Überblick vermitteln und die Auswahl geeigneter Methoden erleichtern. In der Praxis wirken alle Bereiche fast immer zusammen. Wie Lesebegleitung gelingen und gestaltet werden kann, hängt von den Kindern, der Aufgabe und der Situation ab. Sie müssen von Fall zu Fall entscheiden, welche Methoden Sie auswählen und kombinieren. Die vielen Beispiele und Tipps, die Sie in der Werkzeugkiste finden, sollen Sie dazu ermutigen und anregen.
Inhalt
1. Teil: Leitfaden
Zur Einführung: Eine pädagogische Einstimmung
2. Teil: Werkzeugkiste
Zur Einführung: Wie Sie diese Werkzeugkiste nutzen können
1. Freies Lesen, Lesemotivation
- Lektüre auswählen, Bücher finden
Methodentipps: Besuch in einer Bücherei oder Buchhandlung, Bücher im Katalog finden - Lesen im Internet
Methodentipps: Interaktive Programme; CD-Roms zu interessanten Themen; Selber Texte am PC verfassen - Leseerfahrungen festhalten und austauschen
Methodentipps: Eine Buchkartei anlegen, Ein Lesetagebuch führen - Vorlesen
Methodentipps für interaktives Vorlesen: Gedankenreise; Vorlesen mit Zwischenfragen; Vermutungen anstellen, Eindrücke austauschen; Szenen nachspielen, Dialoge erfinden; Gemeinsam vorlesen
2. Sinnentnehmend und sinngebend lesen
- Rhythmisches Lesen
Methodentipps: Sätze rhythmisch lesen; Rhythmisches Sprechen und Lesen von Texten; Sätze und Texte rhythmisieren - Sinneinheiten im Satz finden
Methodentipps: Sätze in Sinneinheiten lesen; Bedeutungen hervorheben und beim Lesen hörbar werden lassen; Sätze und Texte in Sinneinheiten einteilen - Lesegeläufigkeit trainieren
Methodentipps: Übungen zum geläufigen Sprechen; Schritte zum geläufigen leisen Lesen; Schritte zum lauten Lesen in Normalgeschwindigkeit; Hilfen zum konzentrierten Lesen - Fehler finden und Lücken ergänzen
Methodentipps: Fehler finden; Mit Fehlern spielen; Lücken ergänzen
Das Buch:
Annemarie von der Groeben
Gudrun Husemann
Ida Hackenbroch-Krafft
Lesen und Verstehen
Ein Leitfaden für individuelle Lesebegleitung
Verlag Barbara Budrich, 2012
176 Seiten, Pappband, 14,90 €
ISBN 978-3-86649-389-6
Die Autorinnen:
Dr. Annemarie von der Groeben, ehem. Didaktische Leiterin der Bielefelder Laborschule, jetzt TABULA e.V.
Dr. Ida Hackenbroch-Krafft, ehem. Lehrerin und Koordinatorin des Förderprogramms „Basiskompetenz Deutsch" am Bielefelder Oberstufen-Kolleg, jetzt TABULA e.V.
Gudrun Husemann, Lehrerin an der Bielefelder Laborschule, TABULA e.V.
TABULA e.V. unterstützt Kinder aus belasteten Stadtteilen, in enger Zusammenarbeit mit den Schulen, in Kooperation mit der Universität, der Bielefelder Bürgerstiftung und mit finanziellen Ressourcen der Familie-Osthushenrich-Stiftung. Der Druck dieses Buches wurde gefördert von der Stiftung Bildung und Jugend.
Kontakt:
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