Schülertext

Zwölf Gedichte von jungen Lyrikern

24.08.2011

Dritter Jahrgang des Schülerwettbewerbs »lyrix«




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© Deutschlandradio
Über eine anhaltend positive Resonanz freuten sich die Initiatoren des internationalen Schülerwettbewerbs »lyrix« - der Deutschlandfunk, der Deutsche Philologenverband, der Verlag Das Wunderhorn und die Initiative „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH) des Auswärtigen Amtes - im dritten Wettbewerbsjahr. Junge Nachwuchsdichter aus aller Welt sandten jeden Monat Gedichte zum jeweiligen Leitmotiv ein. Themen wie „Erklär mir, Liebe“, „Was es ist“, „Kinderfragen“, „Wie immer“, „Verfehlungen“, „Gespräche im Sommer“, „Familienalbum“ und „Erfindungen, die die Welt (nicht) braucht“ inspirierten zu beeindruckenden Beiträgen. Neben Lyriktalenten aus Brasilien, Bosnien und Herzegowina, Polen, Portugal, der Ukraine und Ungarn zeichnete die Jury zwölf Schülerinnen und Schüler aus Deutschland aus.
Schirmherrin des Wettbewerbs ist die Bundesbildungsministerin, Prof. Dr. Annette Schavan. Im aktuellen Wettbewerbsjahr kooperiert »lyrix« mit namhaften deutschen Museen. Alle zwei Monate beginnt eine neue Wettbewerbsrunde, deren Leitmotiv sich jeweils auf ein Gedicht und auf ein thematisch passendes Kunstobjekt bezieht. Schülerinnen und Schüler der 5. bis 13. Klasse können sich mit eigenen Gedichten am Lyrikwettbewerb beteiligen.

Es folgen die Gedichte der deutschen Preisträger des »lyrix«-Jahrgangs 2010:

Puls

Dieses Gefühl von Regen auf Asphalt, lauwarm, dampfend,
Wir haben Staub gefressen, Love,
Wir haben Regen getrunken
Wir haben den Beat vom Kopfsteinpflaster geleckt
Als unsere Füße längst blutige Blasen hatten, als
Unsere Schuhe längst den Landwehrkanal hinunter trieben
Und sich zu größeren Helden
Ins Spreeschlammbett gesellten
Ich weiß nicht, wann ich das letzte mal
Müde gewesen bin, ich weiß nicht,
Wann ich jemals geschlafen habe
Aber im Morgengrauen
Hatte ich Worte und Glasscherben zwischen den Zähnen
Und ich weiß nicht,
Was wir acht Stunden lang gesprochen haben, aber
Kurz vor der Dämmerung
Habe ich dir zugeflüstert, dass alles möglich ist.

Autorin: Josefine Berkholz aus Berlin
Romain Rolland Oberschule, Jahrgangsstufe 10
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Juli: Gespräche im Sommer



Mustermensch

immer gelächelt
fröhlich getan.
immer gelernt
fleißig getan.
immer gehorcht
vernünftig getan.
immer gesprungen
höflich getan.
immer getan
immer gemacht
immer vorgetäuscht
immer das
Idealbild gewesen.
immer nur geträumt
vom Ameisen zertreten
vom Steine werfen
vom Schule schwänzen
vom Stress mit Eltern
vom dreckigen Lachen
von Zigarettenqualm
von Entnüchterungszellen
von Drogen
von Sex
vom abschreckenden Beispiel
vom „dagegen sein“
nur geträumt
nicht das Gefühl zu haben nur so dahin zu leben.
nur geträumt
die Hülle „Mustermensch“ irgendwann abzustreifen und zu vergessen.
nur geträumt
sich selbst je verzeihen zu können.

Autorin: Johanna Fugmann aus Memmelsdorf
Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg, Jahrgangsstufe 7
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Juni: Verfehlungen



Familienurlaub

Aufgeklebtes Lachen
Aus den Sommerseiten
Gehalten von unserer Erinnerung
Ans weite Meer
Wo wir klein waren
Geschmolzene Eislippen
Zerflossen in Sonnenstrahlen
Die unsere Herzen verbrannten
Und deren fransige Enden wir fingen
Obwohl nie einer gewann

Verzogen und verstummt
Sind die Worte
Mit denen wir uns malten
Zusammen vor Wasserlinien
Die kichernd nach Zehen griffen
Deren Spuren sie verwischen
Schnell und gierig
Den hellen Geschmack kostend
Der auf unseren Zungen lag

Der Wind trug Gerüche vorbei
Nach salzigen Zitronenbäumen
Und er spülte Sandkörner
Zwischen das blasse Papier

So verblichen einsam
Sie den Boden nun bedecken

Autorin: Sophie Garbe aus Tübingen
Uhland-Gymnasium, Jahrgangsstufe 11
Leitmotiv im »lyrix«-Monat September: Familienalbum



Bitte gib mir

Gib mir Worte, zu beschreiben, was ich fühle
Silben, Verse, zu umreißen, was ich will
Gib mir Metren zum Vertreiben dieser Kühle
Die ich einsam denkend spüre, beißend, still.
Gib mir Federn, um dir Briefe zuzusenden
Tinte, Farben, zu skizzieren, wer wir sind
Gib mir Messer, um die Fesseln zwischen Händen
zu zerfasern, gib mir Freiheit wie der Wind.
Gib mir Löwenzahn, um Zukunft auszustreuen
Rosen, Tulpen, zu erkennen, was vergeht
Gib mir Buße, meine Taten zu bereuen
Leid, Erfahrung, um zu schätzen, was besteht.
Gib mir Wurzeln, meinen Weg nicht zu verlieren
Äste, Blätter, zu entfalten meinen Geist
Gib mir Flügel, meinen Pfad zu variieren
Sei das Feuer, wenn mein Innerstes vereist.
Gib mir Liebe, wenn ich glaube, zu erblinden
Sei das Wasser, wenn mein Blütenwerk verwelkt
Gib mir Kraft, den Weg zu dir zurückzufinden
Bitte gib mir. Sei der Inhalt meiner Selbst.


Autorin: Judith Gerten aus Pulheim
Geschwister Scholl Gymnasium, Jahrgangsstufe 12
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Januar: Erklär mir, Liebe



Gewittersturm

In meiner Stirn gewittern die Gedanken
Und kreisen um verblasste Zärtlichkeiten,
Darin wir einst als Lichterpaar versanken.

Ein Tanz auf einem Grat aus Unklarheiten,
In filigranen, dornbesetzten Ranken,
Wenn körperlose Blitze durch mich gleiten.

So wie die Wahngesichte eines Kranken
Verzerren sich die Bilder alter Zeiten,
Und alle Wirklichkeit gerät ins Wanken.

Fortuna spielt auf geisterhaften Saiten,
Der bleiche Himmel tritt aus seinen Schranken
- In Wind und Donner eingefasste Weiten.

Ein Kalkrubin erhebt sich in den blanken
Gestirnen aus verfälschten Zärtlichkeiten ...
Und über mir gewittern die Gedanken.

Autor: Kai Gutacker aus Niddatal
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Januar: Erklär mir, Liebe



wie immer

barfuß am morgen
der spiegel im bad
hält sorgen verborgen
schickt dich in den tag
monoton gehst du schwer
nichts besser nichts schlimmer
grau kalt und leer
bleibt alles wie immer

verwundet am abend
die maske fällt ab
hat dir nichts zu sagen
schickt dich in die nacht
monoton stellt der tisch
dir ein stuhlbein im zimmer
du fällst bis du schläfst
bleibt alles wie immer

friedlich die nacht
du atmest ganz leise
träumst mutig bedacht
schickst dich auf die reise
monoton wirst du farbig
bist kurz der gewinner
von dem grau das dich bricht
- bleibt alles wie immer

Autorin: Christiane Heidrich aus Vaihingen/Enz
Friedrich-Abel-Gymnasium, Jahrgangsstufe 9
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Mai: Wie immer



Dem Sommer gesagt

Der Wind liest mir die Worte von den Lippen
Der Tag löst sich
Und ich bin glücklich
Dass die Wellen des Sees
Nichts an mich herantragen wollen

Der Laut des Steins der
Ins Wasser eintaucht -
Von sinnleerer Schönheit

Wortlos die Redekunst der Natur

Man möchte ihr Worte geben -
Flaschenpost die keinem Menschen gilt
Liebesbriefe ohne Empfänger

Zurück käme nur ein
Frisches Rauschen der Blätter
Und das lautlose Mund-Öffnen
Mund-Schließen der Fische
synchronisiert
Vom aufkeimenden Verkehrslärm der Stadt

Autor: Jonas Kohnen aus Ludwigshafen
Heinrich-Böll-Gymnasium, Jahrgangsstufe 11
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Juli: Gespräche im Sommer



Mimikry

Ich steche mir Nadeln in Augen,
um genau so zu sehen wie ihr.
Verstopfe den Mund und die Ohren,
um das selbe zu wissen wie ihr.
Ich schneide mein Fleisch um zu narben,
um das Leiden zu spüren wie ihr.
Ich breche mir Beine, behindere
mich selbst, denn ich will faul sein wie ihr.
Danach fessel ich mir die Hände,
um genauso zu handeln wie ihr.
Dann frier ich Gefühl ein in Tiefe,
um genauso zu fühlen wie ihr.
Versuche das Denken zu stoppen,
um so viel zu erreichen wie ihr.
Versuch zu erahnen doch kann ich
nicht versteh'n, dass man handelt wie ihr.

Autor: Martin Piekar aus Bad Soden
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Februar: Was es ist



wondering if

dein kuss schmeckt
nach mangoeis mit
streuseln, wenn wir rio &
paris zusammenflüstern
den sommerschweiß aus
unserer haut kämmen, wie
verlauste affen im savannenmond

ich schäle kippenschachteln & zähle
die simultanen bässe unserer herzen
du schläfst deinen orgasmus aus,
mein arm verschwindet in deinem haselnusshaar

atem auf atem, schlafe auch ich nun ein
zwischen deinen ausgeklappten lidern.

Autor: Viktor Reier aus Bremen
Gymnasium Vegesack, Jahrgangsstufe 13
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Juli: Gespräche im Sommer



Wohin?

„Wohin ist Mäxchen gegangen?“
- Dein Bruder spielt oben im Zimmer -
„Wohin ist Oma gegangen?“
- Zum Arzt, ihr Husten wurd' schlimmer -

„Wohin ist Opa gegangen?“
- In den Keller, er holt sich ein Bier -
„Wohin ist Mama gegangen?“
- Zu den Engeln, sie lächelt zu dir -

„Papa, wohin musst du gehen?“
- Zur Arbeit, die Pause ist aus -
„Wenn du die Mama siehst, sag ihr,
ich warte auf sie hinterm Haus.“

Autor: Oliver Riedmüller aus Fürth
Heinrich-Schliemann-Gymnasium Fürth, Jahrgangsstufe 12
Leitmotiv im »lyrix«-Monat April: Kinderfragen



Totalschaden

Einst ritten Liebespaare
Bei Sonnenuntergang
die Allee entlang
Doch heute ist die Straße
Nur noch Schauplatz
eines Schönheitswettbewerbes
Blecherner Männerträume
Als Hauptpreis gibt es einen Ehekrach
Scheidungspapiere und Tränen
Vor Freude über den neuen Schatz
Putz- statt Kuschelstunden
Und am Ende krepiert das junge Glück
An einem Totalschaden
Durch einen umstürzenden Baum
Als Antwort auf den Klimawandel

Autorin: Benita Salomon aus Schriesheim
Kurpfalzgymnasium Schriesheim, Jahrgangsstufe 12
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Dezember: Erfindungen, die die Welt (nicht) braucht



Meine Liebe.
Hypothetisch.


I.
Aufwachen.
Dein Arm, mein Rücken, deine Nase, mein Nacken, dein Schlüsselbein,
meine Fingerkuppen.

II.
Atmen.
Schweiß. Dann meer.
Aber nur Ostsee. Salz in den Lungenflügeln. Hindert am fort fliegen.

III.
Schmecken.
Wieder Salz. Auf deinen Schultern, in deinem Haar, an deinen Schenkeln
Und auf meinem Brustkorb. Salz macht durstig.
Wir trinken uns. Langsam.

IV.
Hören.
Pulsierende Venen.
Ich brauche kein Meer.
Mein Ohr an dein Ohr. Das ist Muschel genug.
Und keine Kreuzfahrtschiffe auf deinem Wasser.

V.
Festhalten.
Dein Blick in meinem.
Ein Zyklop am Meer, die Vertikale zum Horizont.
Sucht den Fluchtpunkt im Wasser. Doch die Mittagssonne will nicht
untergehen.
Wir sind dreidimensional, obwohl wir zwei
Eins sind.

VI.
Einschlafen.
Schattenhaft.

Autorin: Eva Wohlfarth aus Jena
Leitmotiv im »lyrix«-Monat Februar: Was es ist


Lesen Sie auch die Gedichte der Preisträgerinnen und -preisträger aus dem Ausland auf der »lyrix«-Website.

Der »lyrix«-Jury 2010 gehörten an:
Die Lyriker Uljana Wolf und Norbert Hummelt, der Hauptabteilungsleiter Kultur des Deutschlandfunks, Dr. Matthias Sträßner, der Literaturkritiker Michael Braun, der Verleger Manfred Metzner (Das Wunderhorn), der Geschäftsleiter des Literarischen Colloquiums Berlin, Dr. Ulrich Janetzki, sowie Malte Blümke für den Deutschen Philologenverband.

»lyrix« - Schülerwettbewerb für Dichter mit Klasse
Der internationale Schülerwettbewerb »lyrix« ist ein Kooperationsprojekt des Deutschlandfunks mit dem Deutschen Philologenverband, dem Verlag Das Wunderhorn und der Initiative „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH) des Auswärtigen Amtes. Schirmherrin ist die Bundesbildungsministerin, Prof. Dr. Annette Schavan.
Im aktuellen Wettbewerbsjahr kooperiert »lyrix« mit namhaften deutschen Museen. Alle zwei Monate beginnt eine neue Wettbewerbsrunde, deren Leitmotiv sich jeweils auf ein Gedicht und auf ein thematisch passendes Kunstobjekt bezieht. Schülerinnen und Schüler der 5. bis 13. Klasse können sich mit eigenen Gedichten am Lyrikwettbewerb beteiligen.

Mehr Informationen zum »lyrix«-Wettbewerb unter www.dradio.de/lyrix.

Kontakt:
Annemarie Bütow
Deutschlandfunk / Deutschlandradio Kultur
Raderberggürtel 40
50968 Köln
Tel.: (0221) 345 2169
E-Mail: Annemarie.Buetow@dradio.de
Internet: www.dradio.de/lyrix

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