Bericht

Digital Native oder digital naiv?

26.11.2010

Jugendliteratur zwischen Twitter und Wertevermittlung




Titelseite des Kataloges
Titelseite des Kataloges
© Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V.

Der neue Empfehlungskatalog „Das Jugendbuch“ des Arbeitskreises für Jugendliteratur bietet Eltern, Lehrern, Pädagogen und Bibliothekaren eine Orientierungshilfe. 115 Titel zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten wurden von Fachleuten aus den Bereichen Buchhandel, Literaturkritik, Bibliothek, Pädagogik und Forschung sorgfältig zusammengestellt und ausführlich besprochen. Der Schwerpunkt der Auswahl liegt dabei auf den Neuerscheinungen der letzten drei Jahre. Sowohl literarisch anspruchsvolle Texte als auch Lesetipps für weniger geübte Leser von zwölf bis 16 Jahren werden vorgestellt. Eine Fachbibliografie und umfassende Register machen den Band zu einem nützlichen Nachschlagewerk für Eltern, Lehrer, Pädagogen und Bibliothekare.
Im einführenden Beitrag, den wir nachfolgend mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen, beleuchtet Annette Kliewer aktuelle Trends auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt.

Digital Native oder digital naiv? - Jugendliteratur zwischen Twitter und Wertevermittlung
Zunächst einmal: Es gibt immer noch gedruckte Bücher, sie wurden noch nicht von E-Books verdrängt. Diese sind noch allzu teuer und wenig attraktiv, gerade was den Jugendbuchsektor angeht. Jugendliche bekommen Bücher immer noch eher von wohlmeinenden Müttern, Tanten oder Großmüttern geschenkt oder aber sie leihen sie sich in Bibliotheken aus, aber sie kaufen sie immer noch selten allein. Immerhin zeichnet sich ab, dass Jugendliche mit Hörbüchern und E-Books in ähnlicher Weise umgehen wie mit anderen elektronischen Daten: Eine Umfrage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels hat ergeben, dass jeder fünfte Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren schon einmal illegal diese Medien an andere weitergegeben hat.1

Natürlich hat der Computer als neues Hauptmedium noch weiter an Bedeutung zugenommen: Er bietet nicht nur die Konkurrenz der Computerspiele und der Filme, die nun rund um die Uhr zugänglich sind, sondern vor allem alle Bereiche des Social Networking, des Austauschs mit Gleichaltrigen. Das bietet manchmal neue Chancen für den Jugendbuchmarkt – man kann auch über Bücher chatten oder sich in Foren dazu äußern, eine Tatsache, die einige Verlage wie Carlsen schon zu Werbezwecken entdeckt haben. Ja, es soll schon Autoren geben, die ihre Blogs dazu benützen, um ihre Entwürfe bei jugendlichen Lesern „vorzutesten“ und so die Interaktivität des Mediums nutzen.2

„Jugendliche treffen, wo sie online unterwegs sind“ – das ist etwa das Verlagskonzept von Langenscheidt, wo man nun Sprachkurse auf Facebook anbietet. Gleichzeitig ist das Internet sicher weiter eine Bedrohung für die Vielfalt des Mediums Jugendliteratur, wirkt doch die Oberflächlichkeit der schnellen Informationsbeschaffung (à la Wikipedia) und der schnelle Wechsel sowie die gleichzeitige Nutzung mehrerer Medien nachhaltig auf das Leseverhalten der „Digital Natives“, derer, die mit dem Internet aufgewachsen sind.3

Die weitere Verbreitung neuerer Technologien ist auch ein Grund dafür, dass Hörbücher bei Jugendlichen weiter gut ankommen. Auf dem I-Pod gespeichert, kann man sie beim Joggen oder auf dem Schulweg en passant konsumieren. Was im Kinderbuchbereich noch verbreiteter ist, gilt in abgeschwächter Form auch beim Jugendbuch: Ein Buch lohnt sich erst dann, wenn es intermedial vernetzt werden kann als E-Book, Film, Zeitschrift, Computerspiel, Hörbuch, Theaterstück, Musical etc. Das schadet der Jugendliteratur nicht grundsätzlich, führt nur dazu, dass der Markt sich weiter konzentriert – nur für die am besten verkauften Bücher lohnt sich diese Form der Verbreitung.

Zweitens: Es gibt nicht nur weiter Bücher, sondern auch weiter Bücher für Jugendliche und dem Markt geht es oberflächlich gesehen gut: Mit 15,7% Umsatzanteil am gesamten Buchmarkt hat das Kinder- und Jugendbuch einen Höchststand seit Beginn der Trendberichte Kinder- und Jugendbuch 2004 erreicht. Der Umsatz mit Kinder- und Jugendbüchern ist 2009 um 11,1% angestiegen, der für Jugendbücher um 44%. Dies liegt allein an den All-Age-Büchern, die von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis ca. 30 Jahren gelesen werden.4 Es hat sich also die Tendenz verfestigt, dass Übergänge zum Erwachsenenbuch aufgeweicht werden.

Kein Trendwechsel bei All-Age
Die 20 meistverkauften Bücher von 2002 bis 2009 im Bereich Belletristik (also für Erwachsene) enthalten elf Titel (d.h. mehr als die Hälfte), die eigentlich als Jugendbücher erschienen sind.5 Der Harry Potter-Effekt (1998-2007) wurde mit den Tintenwelt-Büchern von Cornelia Funke (2003, 2005, 2007) fortgesetzt, bei denen es aber erst der dritte Band schaffte, auf die Spiegel-Bestenliste zu gelangen – dafür aber auf Anhieb gleich auf Platz Eins. Als „All-Age“ ging auch Die Bücherdiebin des Australiers Markus Zusak durch, ein Buch, das 2008 auf Deutsch gleich in zwei Auflagen – eine für Jugendliche, eine für Erwachsene – erschienen ist. In einigen wenigen Fällen gelang es auch umgekehrt Büchern aus dem Erwachsenen-Segment als Jugendbücher anzukommen, allen voran Feuchtgebiete von Charlotte Roche (2008), ein Phänomen das sich durch die Tabuverletzung – hier im sexuellen Bereich – erklären lässt. Eigentlich braucht es diese Überschreitung aber gar nicht mehr, zeichnen sich doch die meisten Jugendbücher weiter durch eine tabulose Darstellung der Grenzthemen Sex, Drogen, Tod aus.

Der Hype im All-Age-Bereich wurden dann die Biss-Bücher von Stephenie Meyer. Mystery und Aufgreifen von Traditionen aus dem Grusel-Bereich werden nun für Mädchen verknüpft mit einer fundamentalistischen Einstellung, die aus den konservativen Milieus der USA herüberschwappt. Das alte Muster der Liebesromane (der Liebe stehen unüberwindbare Hindernisse gegenüber) wird hier in extremer Form erotisch aufgeladen: Sex wird dadurch spannend, dass es ihn nicht geben darf, weil er tödlich wäre. Die direkte Adressierung an Mädchen und junge Frauen macht sich natürlich bezahlt, sind sie es doch, die den Hauptteil der Leser von Belletristik ausmachen. Dies belegen einmal wieder die Zahlen der Leseumfrage von Stiftung Lesen aus dem Jahr 2009.

Autorin: Annette Kliewer

Anmerkungen:
1 Vgl. Umfrage des Börsenvereins „Illegal aber egal“.
2 Vgl. Süßbrich.
3 Vgl. Neunte Kinder- und Jugendmarktkonferenz 2009.
4 Vgl. Trendbericht Kinder- und Jugendbuch vom 19. März 2010.
5 ZEIT Nr. 42, 8. Oktober 2009, S.18.

Das Jugendbuch
Hrsg. von Doris Breitmoser und Kristina Bernd
München 2010, 3. überarb. Aufl., 84 Seiten
8,00 Euro zzgl. Versand

Bezugsquelle:
Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V.
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